Sonntag, 28. Oktober 2012

Waffen für Syriens Rebellen bringen keinen Frieden

Der Krieg in Syrien tobt weiter ohne Ausicht auf ein baldiges Ende. Trotz so mancher Geländegewinne der Rebellen herrscht seit Monaten ein militärisches Patt, in dem es nur Verlierer, nur Tote, nur terrorisierte Zivilisten gibt. In dieser Situation werden die Rufe nach entschlossener Bewaffnung der Gegner des Diktators Bashar el Assad im Westen immer lauter. Ohnedies schafft es die "Freie syrische Armee" dank intensiver Hilfe ihrer Schutzmacht Türkei, sich durch Waffenschmuggel, insbesondere auch aus den Golfstaaten Saudi-Arabien und Katar, sowie Libyen u.a. ihr Arsenal mit immer schlagkräftigerem Tötungsgerät aufzustocken. Aber ganz offiziell erwägen inzwischen Frankreich und vor allem Kreise in den USA eine massive militärische Unterstützung der militanten Opposition, die über mein einheitliches Kommando verfügt, zutiefst zersplittert und von allerlei radikalen, islamistischen, terroristischen und auch kriminellen Elementen - viele davon keine Syrer - unterwandert ist. 


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Freitag, 26. Oktober 2012

Verliert Assad Aleppo?

Langsam, sehr langsam gewinnen die syrischen Rebellen an Kraft – Doch das Regime kann noch die wichtigsten Positionen halten – Ein hoffnungsloses Patt

von Birgit Cerha
Die islamische Welt begann ihr großes Eid al-Adha-Fest, doch in Syrien ist ungeachtet eines vom Regime verkündeten viertägigen Waffenstillstandes der Kriegslärm nicht verstummt. Der Feuerpause droht das Schicksal ihrer letzten Vorgängerin, die im April bereits nach einem Tag zusammenbrach. Ein wenig ruhiger war es Freitag aber wenigstens in einigen Teilen des Landes, wo humanitäre Helfer nach den vielen Wochen ununterbrochener erbitterter Kämpfe wenigstens eine kurze Chance erhielten, Bedürftigen beizustehen.


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Donnerstag, 25. Oktober 2012

Syrische Wunschträume

von Birgit Cerha


Kann ein viertägiger Waffenstillstand das gequälte Syrien aus seinem Todesrausch reißen? Das wohl hofft der UN-Vermittler Lakhdar Brahimi. Schweigen die Waffen wenigstens kurze Zeit, könnte ein politischer Prozess zur Beendigung des Gemetzels beginnen. Doch für die Kämpfer auf beiden Seiten ist offenbar – trotz geschätzten 30.000 Toten – noch nicht genügend Blut geflossen, um dem Schutz von Menschenleben die allerhöchste Priorität einzuräumen. Die katastrophal zersplitterte Opposition beharrt auf dem Sturz des Diktators und dieser besitzt immer noch beträchtliche Kraft in seinem Überlebenskampf. Trotz wichtiger Geländegewinne der Rebellen in der Wirtschaftsmetropole Aleppo dürfte der Ausweg aus einem monatelangen militärischen Patt noch nicht gefunden sein.

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Mittwoch, 10. Oktober 2012

Iran: Der sanfte Massentod


Die internationalen Sanktionen gegen den Iran treffen mehr und mehr die Ärmsten und Schwächsten, halten die Jugend als Geiseln, indem sie ihr die Zukunft verbauen und die wehrlose Bevölkerung in Ohnmacht und Verzweiflung treiben. Kann die internationale Gemeinschaft, kann der Westen tatenlos und gleichgültig zusehen, wie die politischen Führer ein ganzes 80-Millionen-Volk in die Verzweiflung treiben? "Die heraufziehende Katastrophe", so mahnt der iranische Chemiker Muhammad Sahimi, "wird zu einem ethischen und moralischen Problem für die gesamte Weltgemeinschaft".
Erschreckende Details der beginnenden Katastrophe sind in dem Artikel "Killing them Softly: The Stark Impact of Sanctions on the Lives of Ordinary Iranians" nachzulesen.


http://www.icanpeacework.org/wp-content/uploads/2010/01/ICANIransanctionssummer12.pdf

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LEXIKON: Sanktionen gegen den Iran

Internationale Sanktionen gegen den Iran sind so alt wie die „Islamische Republik“. Die Amerikaner verhängten und verschärften sie, nachdem radikale Anhänger von Revolutionsführer Khomeini 1979 die US-Botschaft besetzt hatten. Ungeachtet dieses Drucks hielten sie 52 US-Diplomaten 444 Tage lang als Geiseln. Das Embargo, konzentriert weitgehend auf den Rüstungssektor, berührte die Bevölkerung allerdings kaum. Geschäftsleute, einfache Bürger, der Mittelstand wurden seit 1995 jedoch mehr und mehr getroffen, seit der damalige US-Präsident Clinton Sanktionen gegen den Öl- und Gassektor verhängte und nun auch zunehmend der Finanzbereich gelähmt wurde. Während in den vergangenen Monaten die Wohlhabenden in ohnmächtigem Schock die Schrumpfung ihrer Ersparnisse verfolgen und sich mehr und mehr der Masse der Armen anschließen, sind die sozial Schwachen, jene, die den geringsten Einfluss auf die Politik des Landes auszuüben vermögen, die Hauptopfer.
Westliche Länder, allen voran die USA, haben seit 2006 die Sanktionen graduell verschärft und auch begonnen, auf Einzelpersonen, insbesondere in den Revolutionsgarden, dem Rückgrat des Regimes, zu zielen. Mit einem Geldwäschevorwurf gegen die iranische Zentralbank und das gesamte Bankwesen des Landes konnten die USA ausländische Regierungen dazu anhalten, ihre Verbindungen zu den Banken ebenfalls zu lösen, wodurch auch für die iranische Privatwirtschaft das internationale Handelsgeschäft völlig gelähmt wurde. Die Sanktionen zielen vor allem auch auf die Schiffahrtsindustrie. Das letzte nicht-iranische Unternehmen, das sich noch bereitgefunden hatte, Tanker mit iranischem Öl zu versichern, beugte sich nun massivem US-Druck und zog sich aus dem Geschäft zurück.
Wiewohl bereits in fast totale ökonomische und politische Isolation getrieben, haben die Sanktionen das iranische Regime eher in seiner Entschlossenheit bestärkt, mit dem Atomprogramm, (für „friedliche Zwecke“, wie Teheran betont) fortzufahren. Unabhängige Experten sind davon überzeugt, dass es dem Iran derzeit nicht darum geht, Atomwaffen herzustellen, sondern sich nur das Know-how für eine eventuelle spätere Produktion zu erwerben.
Vor allem die amerikanischen Sanktionen aber enthalten keinerlei Anreiz für Teheran, sich auf Zugeständnisse einzulassen. Denn der Gesetzestext geht weit über das Atomprogramm hinaus und ist eher dazu angetan, die Herrscher der „Islamischen Republik“ in ihrer Unnachgiebigkeit zu bestärken und nicht mit den USA zu kooperieren. Denn die ökonomischen Strafmaßnahmen gegen den Iran können erst aufgehoben werden, wenn der US-Präsident dem Kongreß darüber informiert, dass das iranische Regime

- Alle politischen Gefangenen freigelassen hat
- Alle Methoden der Gewalt gegen iranische Bürger, die sich in friedlicher Weise politisch engagieren, stoppt;
- Eine transparente Untersuchung der Tötung von und Gewaltanwendung gegen friedliche politische Aktivisten (gemeint ist während der monatelangen Proteste nach den Präsidentschaftswahlen 2009) einleitet und die Verantwortlichen vor Gericht stellt;
- Reformen zur Errichtung eines unabhängigen Justizsystems einzuleiten.

So dringend notwendig solche Maßnahmen auch wären, komplizieren diese Forderungen die Suche nach einer Lösung im Atomkonflikt in gravierender Weise, da sie mit dem iranischen Atomprogramm in keinerlei Zusammenhang stehen. Zudem sind sogar wichtige US-Verbündete in der Region weit davon entfernt, solche Bedingungen zu erfüllen, allen voran Saudi-Arabien und Bahrain, die während des „Arabischen Frühlings“ ähnlich brutal gegen friedliche Demonstranten losgegangen waren und einige von ihnen immer noch in Haft halten, wie die „Islamische Republik“.
Solche Doppelmoral und die zynische Bereitschaft des Westens, auch noch so große Opfer unter einer ohnedies durch ein repressives Regime gequälten Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen, führt – wie die Vergangenheit bereits zeigte – zu einer Verhärtung der iranischen Position und treibt die amerika-freundlichste Bevölkerung des Mittleren Ostens mehr und mehr ins Lager der Feinde der Supermacht.


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„…noch mehr Schmerzen in den Straßen“

Die internationale Sanktionen gegen den Iran treffen nicht das Regime, sondern zunehmend die Schwächsten der Bevölkerung – Dennoch erwägt der Westen eine weitere Verschärfung

von Birgit Cerha

Die Schraube soll noch fester angezogen werden. Deutschland, Frankreich und Großbritannien wollen beim EU-Außenministertreffen am 15. Oktober eine weitere Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen den Iran durchsetzen. Zugleich erstrebt Washington noch massivere Restriktionen für Irans Finanz- und Energiesektor und die Schiffahrts-Industrie. De facto sollen alle Export- und Importtransaktionen des iranischen Bankensystems vollends blockiert werden. Ohne Skrupel spricht der britische Staatssekretär für Verteidigung, Philip Hammond, die Absicht seiner Regierung und jener anderer EU-Staaten aus, den Druck auf den Iran so zu verstärken, dass “noch mehr Schmerzen in den Straßen“ einen das Regime ernsthaft gefährdenden Volksaufstand provozierten.
Einst suchten westliche Regierung zum Euphemismus „intelligenter“ Sanktionen Zuflucht, die nur das Regime in Teheran schmerzen und damit zwingen sollten sein Atomprogramm aufzugeben. Inzwischen aber bekennen sich so manche westliche Politiker, wie Hammond, bereits offen zu der erschreckend zynischen und höchst fragwürdigen Kalkulation, durch ein radikales Wirtschaftsembargo die Unzufriedenheit in der Bevölkerung in einem Maße zu schüren, dass die Iraner es wagen, sich gegen ihr skrupellos repressives Regime, ungeachtet vergangener blutiger Fehlschläge solcher Rebellionen, erneut zu erheben und es zumindest zum Einlenken in der Atomfrage zu zwingen, noch besser aber gleich ganz von der Macht zu jagen. Die Straßenproteste und Streiks der mächtigen Bazar-Händler nach einem dramatischen Kurssturz der Landeswährung Anfang Oktober haben die Verfechter dieses harten Kurses im Westen entscheidend ermutigt. Moralische Einwände gegen eine solche Politik werden mit dem Argument vom Tisch gewischt, Leid (auf die iranische Bevölkerung beschränkt) durch Sanktionen sei immer noch besser als Tod durch einen Krieg mit unabsehbaren Folgen.
Dass aber das Leid in einem zunehmend schockierendem Ausmaß die einfachen Menschen im Lande, ja vor allem die Schwächsten trifft, zeigt sich immer deutlicher. Ungeachtet der staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, die den Armen im Land das Überleben sichern, sind die Preise für Waren wie Milch, Brot, Reis, Gemüse oder Yogurt seit Jahresbeginn um mehr als 100 Prozent in die Höhe geschnellt.

Amerikanische Gesetze etwa verbieten ausdrücklich Sanktionen gegen Nahrungsmittel, Medikamente und Güter für den humanitären Bedarf. Während der Export solcher Waren in den Iran zwar technisch gestattet ist, haben die Sanktionen gegen iranische Banken fast alle Finanzkanäle für derartige Transaktionen blockiert. Iranische Geschäftsleute bekommen für Importe keine Akkreditive mehr. Hinzu kommt ein dramatischer Kursverlust des Rial, der Anfang Oktober von 10.500 gegenüber dem Dollar vor einem Jahr auf 37.500 stürzte – aus einer Kombination von Sanktionen und hausgemachter Misswirtschaft.

Selbst vor dieser jüngsten Krise lag die Inflationsrate bei etwa 30 Prozent, nun – so befürchten unabhängige Ökonomen – drohe dem Land eine Hyperinflation, in der die Preise vollends ausser Kontrolle geraten – eine Entwicklung, die schließlich zu einer totalen Zerstörung der Wirtschaft führen könnte. Täglich gehen schon jetzt Firmen bankrott, die Arbeitslosigkeit liegt nach Schätzungen bei über 40 Prozent. Nach jüngsten Berichten hat der Industriesektor in diesem Jahr rund 800.000 Arbeiter entlassen, jene, die ihre Jobs noch behalten konnten, sehen sich mit einer existenzbedrohenden Schrumpfung der Löhne konfrontiert. 10.000 Fabriksarbeiter appellierten jüngst in einem offenen Brief an das Regime, ihre unter das Existenzminimum abgesunkenen Löhne zu erhöhen. In dieser Bevölkerungsschichte rekrutiert das Regime seit 1979 seine Hausmacht.

Selbst Öl, das bis zu 90 Prozent der Exporterträge lieferte, bringt kaum noch Devisen. Irans Ölprdoduktion ist als Folge der Sanktionen, amerikanischen Drucks auf asiatische Käufer, sich nach anderen Quellen umzusehen, innerhalb eines Jahres um fast 65 Prozent gesunken, liegt nun mit etwa eine Million Barrel im Tag auf den niedrigsten Stand seit mehr als zwei Jahrzehnten. Und die wichtigen asiatischen Abnehmer, insbesondere China und Indien zahlen fast nur noch in Ware und erzwingen einen niedrigen Gegenwert.

Die Sanktionen treffen vor allem auch die Mittelschicht, jene Bevölkerungskreise, aus der Aktivisten der Zivilgesellschaft hervorgehen, jene, die schließlich eine demokrat9ische Alternative zum repressiven „Gottesstaat“ schaffen können. In dem sich stetig verschärfenden Überlebenskampf, verlieren sie zunehmend die Kraft und Energie sich für politische Reformen, Systemveränderung, die Rechte des einzelnen einzusetzen.

Am dramatischsten aber erweisen sich die Sanktionen auf dem Gesundheitssektor. Iran kann keine lebenswichtige Medikamente mehr importieren. Vor allem diverse Krebskrankheiten, Aids, , Hämophilie, unter der mindestens zehntausende Jugendliche und erwachsene Männer leiden oder Multiple Sklerose müssen weitgehend unbehandelt bleiben. Die entsprechenden Medikamente auf dem Schwarzmarkt höchstens für eine kleine Bevölkerungsschicht mehr erschwinglich. Schon jetzt sterben etwa 70.000 Iraner jährlich an Krebs und alle zwölf Monate kommen etwa 80.000 neue Krebsfälle hinzu. Gesundheitsexperten befürchten, der Iran werde bis 2015 von einem „Krebs-Tsunami“ erschüttert. Die Sanktionen bedeuten damit den langsamen Tod von Zehntausenden Iranern, während das Regime und dessen wichtigste Stütze, die für das Atomprogramm verantwortlichen Revolutionsgarden völlig unberührt bleiben. . Die psychischen Folgen steigender Existenz- und Kriegsängste werden sich erst langfristig zeigen. Die wahre Tragödie für 80 Millionen Iraner, die die Welt als Geisel hält, steht erst am Anfang.

Keineswegs nur Experten hatten von anderen Beispielen, wie etwa Burma oder dem Irak längst verstanden, dass internationale Sanktionen, die direkt auf Einzelpersonen und dann auf das gesamte Finanzsystem zielen, wie im Iran, diese politischen Führer nicht einmal wirklich irritieren, geschweige denn von ihren Methoden und Zielen abhalten. Die Familie des irakischen Diktators Saddam Hussein konnte das zwölfjährige Embargo nutzen, um ihren unermesslichen Reichtum noch zu vergrößern, ihr Leben in Luxus voll zu genießen und zugleich das verzweifelte Volk noch stärker unter seine Knute zu zwingen. Nach einer Studie des UN-Kinderhilfswerkes UNICEF, eine der verlässlichsten über die Folgen der Sanktionen im Irak, bezahlten rund 500.000 Kinder die zwölfjährigen Sanktionen mit ihrem Leben, andere mit ihrer Zukunft – eine alarmierende Aussicht, auch angesichts der Tatsache, dass Irans Bevölkerung dreimal so hoch ist. Nur wenige im Westen haben sich je mit diesem enormen ethischen und moralischen Problem ernsthaft auseinandergesetzt. Vielmehr wiederholt die internationale Gemeinschaft diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nun im Iran – und dies auch noch ohne geringste Aussicht, ihr deklariertes Ziel - Abkehr vom Atomprogramm – durch solch gigantischen Preis auch zu erreichen.

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Dienstag, 9. Oktober 2012

Mursis Generalamnestie für „Revolutionäre“

Ägyptens Präsident setzt wichtigen Schritt – Doch viele Hürden liegen noch auf dem Weg zu demokratischen Freiheiten und zur Achtung der Menschenrechte

von Birgit Cerha
Ägypten feiere „einen der wichtigsten Siege der Revolution“, frohlockt Mohammed Gadallah, Rechtsberater Präsident Mohammed Mursis, der eben, zum Abschluss seiner ersten hundert Tage an der Spitze des Landes eine Generalamnestie erlassen hat. Diese gilt für alle politischen Gefangenen, die den Volksaufstand gegen den im Februar 2011 gestürzten Präsidenten Mubarak unterstützt hatten und Zwischen dem 25. Januar 2011 und dem 30. Juni 2012 (dem offiziellen Machtantritt Mursis) festgenommen worden waren. Ausgenommen sind nur jene, die wegen Totschlags in Haft sitzen.
Mehr als 12.000 Menschen wurden nach Angaben der Gruppe „Not o Military Trials“ von Militärgerichten abgeurteilt und mindestens 5000 Menschen sitzen noch aus politischen Gründen in Gefängnissen. Wieviele Häftlinge tatsächlich freikommen, bleibt vorerst unklar.

Ägyptische Menschenrechtsaktivisten begrüßen „diesen großen Schritt“, halten ihn jedoch für keineswegs ausreichend, um die jahrzehntelange Ära der Repression am Nil auch tatsächlich zu beenden. Anwälte kritisieren vor allem die vage Formulierung des Amnestie-Dekrets, das zudem nicht sofort die Freilassung aller der Gefangenen vorsieht, sondern Generalstaatsanwalt und Militärankläger auffordert, binnen einen Monats eine Liste jener vorzulegen, die in den Genuss der Amnestie fallen sollen. Damit bleibt die Phrase „Unterstützung der Revolution“ der Interpretation vorbehalten.

Mursis erste hundert Tage haben viele Ägypter insbesondere im Bereich der Menschenrechte und demokratischer Freiheiten enttäuscht. Wiewohl der Präsident selbst als Aktivist der massiv von Ägyptens Herrschern seit den 50er Jahren verfolgten Moslembrüder die Gefängnisse und Folterkammern des Landes am eigenen Leib kennengelernt hatte, setzte er bisher nicht die von den demokratischen Revolutionären radikalen Schritte, um gravierenden Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen. Bei seiner Machtübernahme versprach Mursi, das alarmierende Sicherheitsvakuum, das der Sturz Mubaraks aufgerissen hatte, zu beenden. Tatsächlich kehrte die Polizei wieder in voller Stärke in die Straßen der Städte zurück. Doch ihr Wiedererscheinen wurde nicht von den so dringend nötigen substantiellen Reformen im Innenministerium begleitet. Die wachsende Sorge vieler Bürger vor einer Rückkehr von Willkür und Brutalität der Sicherheitskräfte wurde in den vergangenen Wochen durch sich mehrende Zwischenfälle genährt.

Menschenrechtsaktivisten beklagen, dass Mursi nichts unternommen hat, um die Polizeimentalität zu verändern. Dafür spricht auch die Wahl Ahmed Gamal Eddins zum neuen Innenminister. Gamal Eddin hatte unter seinem wegen brutaler Repressionen und Folter zutiefst verhaßten Vorgänger Al-Adly als Sicherheitschef für den Süd-Sinai und Oberägypten gedient, eine Region, in der die Sicherheitskräfte traditionell mit besonderer Brutalität vorgingen. Und tatsächlich mehren sich auch jetzt erneut Berichte von Mißhandlungen in Gefängnissen. Kritiker beklagen auch, dass das Innenministerium – wie in der Vergangenheit – seine Hauptaufgabe im Schutz des Systems und nicht der Bevölkerung sieht. Truppen bewachen Regierungsgebäude und nicht etwa von Kriminellen bedrohte Supermärkte.

Auch die Achtung der Meinungsfreiheit, unter deren Verletzung Mursis Moslembruderschaft in der Ära Mubarak und davor bitter zu leiden hatte, läßt im neuen Ägypten viel zu wünschen übrig. Wie einst unter Mubarak wurden auch in den vergangenen Wochen Journalisten wegen „Beleidigung“ des Präsidenten festgenommen oder eingeschüchtert. Drastisch sprang vor allem aber auch die Zahl jener in die Höhe, die wegen „Mißachtung der Religion“ verfolgt werden. So wurden jüngst sogar ein neun- und ein zehnjähriges koptisches Kind festgenommen, weil sie angeblich Verse des Korans zerrissen hatten. „Human Rights Watch“ zeigt sich zutiefst besorgt über einen – allerdings noch nicht vollendeten – Entwurf einer neuen Verfassung, der eine schwere Bedrohung grundlegender Menschenrechte – mangelnder Schutz gegen Folter, Diskriminierung von Frauen, für Meinungs- und Religionsfreiheit – befürchten läßt.

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Donnerstag, 4. Oktober 2012

Ankaras gefährliches Muskelspiel

Die Billigung von Militäroperationen außerhalb der Grenzen durch das türkische Parlament kann die Krise entschärfen oder zu unabsehbare Konsequenzen führen

von Birgit Cerha

Das türkische Parlament, so Kommentatoren in Ankara, hätte gar keine andere Wahl gehabt, als nach der Tötung von zwei Frauen und drei Kindern im Grenzort Akcakale durch syrische Granaten das Eindringen der Armee in syrisches Territorium zu billigen. Ankara müsse seine“ militärische Abschreckungskraft“ demonstrieren. Doch die Entscheidung des Parlaments sei „keine Kriegserklärung“. Besonnene Kräfte hoffen, dass die nun parlamentarisch bekundete Entschlossenheit der Türken, Vergeltung für derartige Grenzzwischenfälle zu üben, die Situation – zumindest vorläufig – entspannen könnte, nachdem die türkische Luftwaffe zwei Tage lang syrische Positionen attackiert und mindestens fünf syrische Soldaten getötet hatte.
Dennoch, die Gefahr von Fehlkalkulationen, vor allem aber Provokationen, die zu einem offenen Krieg zwischen Syrien und der Türkei mit unabsehbaren Konsequenzen für die gesamte Region führen könnten, ist damit keineswegs gebannt. Die türkische Armee kann jederzeit, ohne nochmals das Parlament zu befragen, die syrische Grenze überschreiten.

Das syrische Regime versucht seit Mittwoch intensiv zu beschwichtigen. Ein Krieg mit der Türkei ist das letzte, was der schwerbedrängte Präsident Assad noch riskieren kann. Dennoch bleibt die Frage offen, ob die syrische Armee bei weiteren Attacken der türkischen Luftwaffe nicht doch zurückschlägt und so eine Eskalation unvermeidlich wird.

Bisher ist ungeklärt, ob die Granaten Mittwoch nicht von Angehörigen der „Freien syrischen Armee“ (FSA) oder anderen von der Türkei unterstützten Rebellen gegen Assad abgefeuert worden waren, entweder im Zuge seit Wochen tobender Kämpfe um die Kontrolle des wichtigen Grenzübergangs Tel Abyad, oder um eine gezielte Provokation der FSA. Die Rebellen fordern seit langem eine, auch vom türkischen Premier Erdogan geplante „Schutzzone“ für Flüchtlinge auf syrischem Gebiet, die nach libyschem Vorbild aus der Luft vor Angriffen der syrischen Armee abgeschirmt werden sollte – ein Szenario, das die Türken nicht allein durchsetzen wollen, für das ihnen jedoch – bisher – die internationale Unterstützung fehlt.

Ankara steckt in einer schweren Zwickmühle. Der Flüchtlingsstrom hat mit fast 100.000 Menschen die von Erdogan schon lange festgelegte Grenze der Aufnahmekapazität beinahe erreicht. Hält er weiter an, sei eine „Schutzzone“ die einzige Möglichkeit, den verzweifelten Menschen zu helfen, stellte der Premier schon lange klar. Doch Ankaras Motive beschränken sich keineswegs auf das Humanitäre.

Erdogan hegt offenes Interesse an einem Sturz Assads, um die geostrategische Position der Türkei entscheidend auszubauen, und ist de facto schon lange in diesen Krieg verwickelt, unterhält Ausbildungslager für syrische Rebellen, die insbesondere aus manchen arabischen Ländern, aber auch dem Westen teils intensive Hilfe bekommen.
Zudem hat der schwer bedrängte Assad vor einigen Monaten der kurdischen Minderheit in Nord-Syrien erstmals Freiraum zu einer beginnenden Selbstverwaltung gegeben. In diesem an die Türkei grenzenden Territorium bekamen so mit der türkisch-kurdischen Guerillaorganisation PKK sympathisierende Gruppen Aufwind. Eine Stärkung der kurdischen Bewegung in Syrien steigert den Druck auf die Türkei, endlich ihr eigenes Kurdenproblem – auf demokratische Weise – zu lösen. Zugleich aber beginnt die PKK sich in Syrien ein neues Sprungbrett für Attacken gegen türkische Ziele zu schaffen. Hier liegt die Hauptsorge der türkischen Armee. Die Entscheidung des Parlaments zum Militäreinsatz in Syrien ermöglicht den Türken nun vor allem auch Aktionen gegen die PKK in Syrien, so wie sie es seit Jahrzehnten im Nord-Irak ungestört mit ungezählten zivilen Opfern tut.

Dennoch, ein offener Krieg mit Syrien im Alleingang birgt für Ankara enorme Risiken. Eine überwältigende Bevölkerungsmehrheit lehnt ein solches Engagement entschieden ab und die internationale Unterstützung fehlt weitgehend. In der arabischen Welt drängt nur Katar auf Intervention, nachdem Saudi-Arabien, wichtigster Helfer der Rebellen, nun einen Kompromiss mit Assads Schutzmacht Iran sucht. Vor allem aber bleibt Russland entschlossen, Assad nicht fallen zu lassen und Erdogan kann es sich nicht leisten, Präsident Putin vor den Kopf zu stoßen. In der Türkei leben mindestens 100.000 Russen, unter ihnen hochqualifizierte Experten in strategischen Projekten. Zudem ist die Türkei der zweitgrößte Kunde des russischen Gaslieferanten Gazprom. Das gesamte türkische Energiesystem stützt sich zu einem großen Teil auf Gas aus Rußland und dem Iran.

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