Mittwoch, 29. September 2010

IRAN: Irans heiß umstrittener „Blogvater“

Hossein Derakhshan galt als „Ikone“ der liberalen Jugend, dann als Apologet Ahmadinedschads – nun wurde er zu 19,5 Jahren Gefängnis verurteilt

Das Schlimmste trat zwar nicht ein. Ein iranisches Revolutionsgericht befahl nicht, wie befürchtet, die Exekution des 35-jährigen Hossein Derakshan, sondern verurteilte ihn zu 19,5 Jahren Gefängnis. Doch es ist die weitaus schärfste Strafe, die im islamischen „Gottesstaat“ je gegen einen Blogger verhängt wurde. „Propaganda gegen das Regime“, „Kooperation mit feindlichen Staaten“, „Förderung kontra-revolutionärer Gruppen“, „Beleidigung des Islams und religiöser Persönlichkeiten“, und „Betreiben obskurer Websites“ lauten die Hauptvorwürfe gegen den iranisch-kanadischen Doppelstaatsbürger, der bereits fast zwei Jahre Isolationshaft mit höchst spärlichen Kontakten zu Familie und Anwalt im berüchtigten Evin-Gefängnis von Teheran überstand. Die Möglichkeit der Berufung gegen das Urteil, so heißt es aus Teheraner Justizkreisen, stehe ihm nun allerdings offen.
Diese außergewöhnlich harte Strafe widerlegt wohl ein insbesondere von Exil-Iranern verbreitetes Gerücht, Derakshan hätte sich vom iranischen Regime kaufen lassen, sei vom Freiheitskämpfer zum Apologeten Präsident Ahmadinedschads konvertiert. Die Aktivitäten und Ansichten dieses Journalisten und Bloggers lösten in den vergangenen Jahren viel Verwirrung, Empörung unter iranischen Oppositionellen und Verschwörungstheorien aus. Wer ist Hossein Derakshan und welche Rolle spielte er in dem zunehmend brutalen Machtkampf zwischen den repressiven Theokraten und den sich nach Freiheit sehnenden Iranern tatsächlich. Ein Teil der Antworten auf diese Fragen muss vorerst offen bleiben.
Hossein wuchs als Sohn einer wohlhabenden Familie mit weitreichenden Beziehungen im Iran auf. Er spezialisierte sich auf Computertechnologie und arbeitete 1999 als Journalist und Internet-Kolumnist für eine Reformzeitung in Teheran. Doch er geriet zunehmend in Konflikt mit der staatlichen Zensur und nach einer vom Geheimdienst erzwungenen offenen Entschuldigung für seine Kommentare reiste er im Jahr 2000 nach Kanada aus. In Toronto begann er unter dem Namen „Hoda“ einen Blog, in dem er Iranern Anleitungen erteilte, wie sie mit einfachen Schritten selbst einen Blog in ihrer Muttersprache erstellen können. Er trug damit entscheidend zu einer Explosion der iranischen „Blog-Sphäre“ bei. Bereits 2004 gab es bereits 64.000 Blogs und ein Jahr später an die 100.000. Heute ist Farsi eine der meistgebrauchten Sprachen im Internet. Die Zahl der Blogs wird auf mehr als 700.000 geschätzt und Blogszene lebt fort, ungeachtet massivster Repression durch das Regime insbesondere seit den manipulierten Präsidentschaftswahlen im Vorjahr. Nicht zuletzt deshalb meint die Organisation „Reporter ohne Grenzen“, dürfte das Regime nun an Derakshan ein Exempel statuieren, das Blogger nun endlich nachhaltig einschüchtern solle.

Hossein wurde als „Vater“ des iranischen Blogs gefeiert, neun Jahre lang zählte er zu den bekanntesten und einflussreichsten iranischen Bloggern. Er engagierte sich unermüdlich für demokratische Freiheiten, die Achtung der Menschenrechte, kämpfte in seinen Blogs – in Farsi und Englisch - gegen Zensur und Repression. Im Iran wurden seine Seiten gefiltert, doch seine Anhänger fanden immer wieder Wege, um Hosseins Texte zu verbreiten. Auch in westlichen Medien gewann er zunehmend Prominenz. Man präsentierte ihn als „Ikone“ des jungen, liberalen Iran, er durfte seine Gedanken in der Washington Post oder im britischen Guardian darlegen, trat bei Fernsehsendungen auf und bei Kongressen, wo er gegen die Repressionen in seiner Heimat und die Außenpolitik der „Islamischen Republik“ wetterte.

Er beschrieb sich selbst stolz als Atheisten, zugleich vor allem aber als iranischen Patrioten, der der Islamischen Republik durchaus positive Seiten abgewinnen konnte, denn sie trieb seiner Ansicht nach den Iran auf einem postkolonialen Erfolgsweg voran. Er hielt das politische System, ungeachtet aller Kritik, für durchaus reformfähig und dabei sei jede westliche Hilfe abzulehnen.

Als der Konflikt mit dem Westen über das iranische Atomprogramm offen ausbrach, begann sich die Position dieses iranischen Patrioten zu wandeln. Je mehr seine Heimat von Amerikanern und Europäern unter Druck gesetzt wurde, desto mehr wuchs seine Enttäuschung über die westliche Demokratie. Die aggressive Politik US-Präsident Bushs im Mittleren Osten (Palästina, Libanon, Afghanistan und Irak) weckte tiefe Hassgefühle auf die Doppelmoral der verbal Menschenrechte und Freiheit so hoch achtenden politischen Führer des Abendlandes. In seinem englischsprachen Blog stellte er jede Kritik an der iranischen Außenpolitik und dem Präsidenten ein und verteidigte entschieden das iranische Atomprogramm.

Doch Hossein verschrieb sich zunächst einem Kurs der Versöhnung. Diesem Ziel sollten zwei weithin publizierte Besuche in Israel dienen, wo er Ahmadinedschads Verbalattacken den starken Wunsch vieler Iraner nach Verständigung mit dem Judenstaat entgegenzusetzen suchte. Wiewohl im Iran eine Reise in die verhasste „Zionistische Einheit“ mit mindestens zwei Jahren Haft bestraft wird, wagte Derakshan 2008 die Heimkehr, wurde aber wenig später, im November 2008 festgenommen. Zuvor hatte er einen beträchtlichen Teil der iranischen Blog-Gemeinde und Opposition im Exil vor den Kopf gestoßen, als er nicht nur Ahmadinedschad verteidigte, sondern auch heftig Exil-Iraner, die sich für den Sturz des Regimes mit westlicher Hilfe engagierten, attackierte. Dies wurde ihm zum Verhängnis, als er sich mit dem prominenten Iranisten Mehdi Khalaji des Washington Institute for Near East Policy (WINEP), anlegte. WINEP klagte Hossein wegen Ehrenverletzung und forderte zwei Millionen Dollar Entschädigung. Die Anwälte des Instituts ließen kurzerhand den Blog löschen. Ein krasses Beispiel der auch im Westen zunehmenden Verletzungen von Meinungsfreiheit.

Um Derakhshans Verhaftung rankten sich wilde Verschwörungstheorien. Kritiker meinten, er sei in Wahrheit gar nicht festgenommen worden, sondern schreibe im Luxus einer Teheraner Villa Blogs für das Regime gegen die iranischen Reformer. Tatsächlich tauchten Beiträge im Internet auf, die nach Ansicht iranischer Blogger Hosseins Handschrift trugen. Dass das Regime in den Turbulenzen der Präsidentschaftswahlen im Vorjahr Derakhshans Know-hows im Internet bedurfte, steht wohl außer Zweifel. Ebenso gibt es genügend Beispiele dafür, wie Irans Folterknechte solche „Kooperation“ erreichen.

Eine Antwort auf so manche Unklarheiten über die Hosseins wahre Position gab der Blogvater wohl selbst vor einiger Zeit im „Guardian“. Dort schrieb er im Dezember 2006:

„Wenn die USA den Iran attackieren, werde ich, trotz all meiner Probleme mit der Islamischen Republik“ zurückgehen und diese Bastarde bekämpfen….Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie sie ein Bagdad aus Teheran machen.“


Später erklärte er seine Haltungsänderung mit den Worten:

„Je mehr die Konfrontation zwischen dem Westen und dem Iran eskaliert, desto mehr bin ich überzeugt, dass die wahren Probleme des Westens mit dem Iran nicht dessen nukleare Aktivitäten sind oder das Maß an Demokratie, die Menschenrechte oder seine Unterstützung für ‚Terroristen’-Gruppen. … Das eigentliche Problem liegt in der Entscheidung der Islamischen Republik, unabhängig zu sein in einer an fossilen Energiequellen so reichen Region, in der amerikanische Marionetten den Ton angeben. Iran stellt die amerikanische Hegemonie in der gesamten Welt vor ihre größte dauerhafte Herausforderung, und dafür muß er einen Preis bezahlen. Immer mehr säkulare Iraner wie ich es bin kommen zu der Ansicht, selbst wenn sich der Iran zu einem weltweiten Vorbild an Demokratie, einem säkularen und friedlichen System entwickelt, es keinerlei Garantie dafür gibt, dass die USA nicht wieder eine Ausrede dafür suchen, auch diese Regierung zu stürzen….. Ich bin Atheist…. Ich habe Ahmadinedschad nicht gewählt und ich würde alles tun, um ihn auf demokratische Weise zu Fall zu bringen. …. Ich träume von einem offenen, freien, fairen und säkularen Iran, der von kompetenten, repräsentativen Politikern geführt wird und in Frieden mit der gesamten Welt lebt, inklusive Israel. „

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Montag, 27. September 2010

Die IRAK/AFGHANISTAN: Suche nach Auswegen aus den asymmetrischen Kriegen

Die grösste Militärmacht der Welt, die USA, sieht sich heute in zwei asymmetrische Kriege verwickelt. Beide haben ihr schon gegenwärtig einen unerhörten Prestigeverlust verursacht und beide sind bisher nicht "gewonnen".
Im Falle Irak versucht Washington sich möglichst ungeschoren aus dem Lande zurückzuziehen, in das die amerikanischen Truppen 2003 einbrachen mit der Absicht "Schrecken und Schaudern" zu verbreiten.
Im Falle Afghanistan diskutieren offensichtlich die Generäle mit ihrem Oberkommandanten Präsident Obama in der Hoffnung eine Verlängerung der Frist zu erreichen, die er ihnen gesetzt hat, als er erklärte, im August 2011 werde der Rückzug der Amerikaner beginnen. In die Einzelheiten gibt das neue Buch von Bob Woodehouse "Obama's War" Einblicke. Dass die heutige missliche Lage in Afghanistan in einem Jahr grundlegend verändert werden könnte, gilt offenbar nichteinmal den Generälen als glaubhaft.

Formen des Volksaufstandes

In beiden Fällen sind es nicht klassische Armeen und normale Kampfhandlungen zwischen staatlichen regulären Soldaten, welche den Amerikanern Schwierigkeiten bereiten. Sie sehen sich in einen asymmetrischen Krieg verfangen, in dem ihre regulären Soldaten, unterstützt von gewaltigen Zahlen bezahlter und ebenfalls bewaffneter Hilfskräfte, die man als Söldner anzusehen hat, "Banden" und "Terroristen" gegenüberstehen, die sie bis heute nicht zu bodigen vermochten. Ihr bester Erfolg im Irak kam zustande, als sie ihrerseits ebenfalls irreguläre irakische Truppen mobilisierten und diese gegen die irakischen Aufständischen einsetzten. Doch dieser Erfolg brachte keinen Durchbruch zu einem funktionierenden irakischen Staat zustande und lief aus, ohne den Terroristen- und Guerrilla Banden endgültig das Handwerk zu legen.


"Failed States" als Endergebnisse der US Kriege?
Im Falle eines Abzugs aller amerikanischer Truppen, ist der Irak einer starken Gefahr des Zusammenbruchs durch innere Kämpfe ausgesetzt. Die konstitutionellen Grundregeln des Zusammenlebens der Iraki stehen noch nicht fest. Soweit sie niedergeschrieben wurden, blieben sie provisorisch, indem Hauptfragen ausgeklammert blieben. Die heutige Verfassung lässt zentrale Fragen, vor allen jenen der Autonomie der Kurden und möglicherweise der Schiiten und Sunniten, noch offen, ohne dass Übereinkunft besteht, wie diese Fragen gelöst werden sollen Es gab Wahlen, aber sie führten in den letzten sechs Monaten nicht zu einer gewählten Regierung. Es gibt neu ausgehobene und neu ausgebildete Sicherheitskräfte, aber wem sie dienen ist unklar, weil ein Streit besteht, wer das Land überhaupt zu regieren habe.
In Afghanistan sind die ursprünglich von den Amerikanern vertriebenen Taleban aus dem Asyl, das ihnen von Pakistan gewährt wurde, zurückgekehrt, und gewinnen täglich an Einfluss. Sie suchen die weit verstreute und von keiner effektiven Regierung verteidigte Dorfbevölkerung der Afghanen durch Einschüchterung und Terror auf ihre Seite zu zwingen, und sie sind überall dort erfolgreich, wo keine amerikanischen oder Nato Truppen stehen, um ihnen das Spiel zu verderben. Das sind immer wachsende Teile Afghanistans, weil die fremden Truppen nicht in der Lage sind, überall gleichzeitig die Bevölkerung in Schutz zu nehmen.
Davon dass die Karzai Regierung diese Schutzrolle übernehmen könnte, was eine der Grundvoraussetzungen der amerikanischen Strategie wäre, kann vorläufig nicht die Rede sein. Ihre Truppen, so lautet die amerikanische Standart Formulierung, "sind nicht im Stande alleine zu operieren".. Die Karzai Regierung gilt so gut wie allen Afghanen sowohl als korrupt wie auch als eine Marionette der Amerikaner. Eine Parallele zum Irak besteht insofern, als es die amerikanischen Waffen in beiden Ländern nicht vermocht haben, eine funktionsfähige und der eigenen Bevölkerung glaubwürdig erscheinende Regierung hervorzubringen und einzusetzen.


Verschwimmende Kriegsziele
Was die Zielsetzungen der Amerikaner waren. Als sie die Kriege auslösten, ist im Falle des Iraks nach wie vor unklar. Man weiss nur, welche Vorwände und Lügen die Bush Regierung verwendete, um die amerikanische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie den Krieg führen müssten.
Im Fall von Afghanistan ging es darum, die Taleban abzusetzen, weil sie Ben Laden in ihrem Lande beherbergt hatten und Ben Ladens selbst habhaft zu werden. Die beiden Ziele wurden nicht erreicht, ein Erfolg schien nah im Jahre 2002, doch seither ist er in weite Ferne gerückt.


Schwer gewinnbare Bandenkriege
Rückblickend wird deutlich, Krieg gegen Banden ist schwerer zu gewinnen als einer gegen konventionelle Heere, die der technologischen Überlegenheit der US Streitkräfte notwendigerweise erliegen. Es ist in erster Linie die Präsenz einer fremden militärischen Besetzungsmacht und das Gewicht ihrer Gewaltaktionen, das den Bandenkrieg erst hervorruft und später immerwieder fördert. Die amerikanischenTruppen sorgen dafür, dass ihren Feinden stets neue Rekruten zulaufen.
Der Krieg, den die regulären Einheiten der Amerikaner führen, ist immens teuer, sosehr, dass unklar ist, wie lange er fortgeführt werden kann. Der Krieg der Banden, die gegen sie stehen, ist billig. Die Bandenführer ernähren sich und ihre Bewaffneten durch Erpressung der Zivilbevölkerung und illegale Geschäfte mit dem Ausland, in Afghanistan primär mit Rauschgift. Allerdings ist dieser billige Krieg unendlich schädlich für die Zivilbevölkerungen, er löst schrittweise alle staatlichen Bindungen der Afghanen und der Iraker, weil die Bandenführer ihre eigene Herrschaft ausüben und dadurch den Staat unterwandern. Ihre Kriegsführung beabsichtigt den Zusammenbruch des Staates, in dem sie agieren. Ob sie später einen eigenen Staat werden aufbauen können, und welcher Art ihr Regiment dann sein würde, bleibt offen. Für Afghanistan hat man eine Vorstellung davon, wenn man auf das frühere Regime der Taleban zurückblickt.


Die Besetzung wird Mutter des Kriegs
In beiden Ländern förderte die Präsenz der fremden Truppen den Erfolg der Banden. Was immer die Ideologie sein mag, die sie anrufen und benützen, viele ihrer Rekruten laufen ihnen zu, weil sie einen Weg suchen, der es ihnen ermöglicht, gegen die Fremden und ihre Macht anzukämpfen. Durch die Besetzung und Machtausübung der Fremden und ihre oft brutale und mörderische Gewalt fühlen sie sich in ihrer Ehre soweit in Frage gestellt, dass sie sich um jeden Preis, auch den ihres Lebens, dagegen erheben. Dies ist der Hebel, den die Taleban benützen, um immer neue todeswillige Kämpfer zu gewinnen. Dieser Hebel bleibt wirksam, solange die Fremden in ihrem Lande stehen.
Aber auch die Entmachtung der Kräfte, unter den eigenen Landsleuten, die als die Diener der fremden Mächte gesehen werden, wird Kampfziel. Die Aufständischen erwarten, wahrscheinlich zu recht in Afghanistan, dass sie stürzen werden, sobald sie den Schutz der fremden Truppen nicht mehr geniessen. Die fremden Truppen stehen vor der Wahl, entweder den Widertandswillen der Aufständischen zu brechen, oder in irgendeiner Form nachzugeben.
In kolonialen Zeiten bis hin zum Zweiten Weltkrieg war es in der Tat möglich, die Bevölkerungen der "Kolonialländer" niederzuhalten. Schon damals allerdings nur durch die permanente Präsenz von kolonialen Armeen. Unter ihrem Schutz konnten dann in jahrelang dauernden Prozessen einheimische Regime aufgebaut werden, die sich mehr oder weniger murrend dem Willen der fremden Herren fügten. Doch die kolonialen Heere mussten immer im Lande bleiben, und periodisch kam es zu Unruhen und Aufständen der "Kolonialvölker", die Truppenverstärkungen aus der Metropole notwendig machten. Der Abzug der Kolonialheere, nicht die offizielle Entlassung in die Unabhängigkeit, die manchmal schon Jahre früher erfolgte, wurde deshalb der entscheidende Schritt bei der Entkolonisierung.


Eine nicht koloniale Besetzung?
Doch die heutigen Besetzungstruppen in Afghanistan und im Irak wollen keine Kolonialheere sein und sie können es auch gar nicht. Ihre Art der Kriegführung ist so teuer, dass sie über Jahrzehnte hinweg auch die reichsten Länder der Erde in den Bankrott treiben würde, und die Kriegsführung gegen sie ist im Rahmen der unsymmetrischen Kriege viel gefährlicher und tödlicher geworden, so dass für heutigen Besetzungsarmeen ein billigerer Krieg mit geringeren als den zur Zeit verwendeten Mitteln nicht in Frage kommt.
Es ist wohl in erster Linie der leichtere Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln, Sprengstoffen und Feuerwaffen, der die heutigen Rebellen und Banden gefährlicher macht als jene der kolonialen Epoche es waren. Die damaligen "Eingeborenen" waren auf viel primitivere Waffen angewiesen. Doch auch die damals kaum vorhandene Kampftechnik der Selbstmordbombe und ein bewusster Einsatz der Guerrillastrategie unter Verzicht auf frontale Schlachten erhöht heute ihre Einwirkungschancen. Auch hat sich in den Jahren der Kämpfe gegen die Kolonialmächte und in den rund sechs Jahrzehnten seither ein mehr oder weniger tief greifender lokaler Nationalismus entwickelt, der die Mobilisierung von grösseren und kohärenteren Massen erlaubt, als dies zu Beginn der kolonialen Machtaufrichtung der Fall war. Schlussendlich lässt es wohl auch die heutige Mentalität in den industrialisierten Ländern und weltweit nicht mehr zu, dass klassische koloniale Regime wieder zustande kommen.


Kaum Aufbau von Staaten unter Besetzungsregimen
Die heutigen nicht kolonialen Heere, die in Afghanistan und im Irak stehen, wissen, sie können nur die ihnen gesetzten Ziele erreichen, wenn es ihnen gelingt, die Mitarbeit der von ihnen besetzen (oder "befreiten" wie die Invasionsmächte glauben) Bevölkerungen zu gewinnen. Dies weil diese Ziele, soweit überhaupt erkennbar, aus der Bildung eines zeitgemässen, mehr oder minder demokratisch funktionierenden Regimes bestehen. Doch wenn einmal der Widerstand der Bevölkerungen, nicht bloss jener ihrer leicht zu entmachtenden Tyrannen, begonnen hat, werden solche Ziele rasch illusorisch. Sowohl die Widerstand leistenden Banden, wie auch die sei niederzuhalten suchenden fremden Truppen verwickeln sich eine Gewaltspirale, die kaum mehr zu beenden ist. Im Gegenteil sie zeigt eine fatale Tendenz sich auszudehnen, weil beide Seiten Gewalt anwenden, die sich unvermeidlich auf die Lage der Bevölkerung auswirkt. Die Besetzer wurden vielleicht anfänglich von Vielen als Befreier gesehen. Doch je länger die Gewalt andauert, je mehr die Bevölkerung darunter leidet und je elender ihre Lage wird, desto leichter wird es für die Rebellen, ihre Zustimmung und Hilfe zu gewinnen und ihre Söhne zu rekrutieren.
Die Rebellen aber gehen darauf aus, den Staat, soweit er noch besteht und soweit er von den fremden Soldaten gestützt wird, zu unterwandern und zu zerstören. Die fremden Invasoren müssten Aufbauarbeit leisten, um ihre Ziele zu erreichen. Für den einheimischen Widerstand genügt es zu zerstören. Die Früchte der Zerstörung fallen ihm zu. Solange er über stets neuen Nachschub von Todeskandidaten verfügt, bleibt der Widerstand unschlagbar. Dieser Nachschub jedoch kommt im wesentlichen dadurch zustande, dass die fremden Heere gegen den Widerstand kämpfen und dadurch das Land zerstören statt es aufzubauen.


Doch nocheinmahl Kolonien?
Kann dieser fatale Kreislauf durchbrochen werden? Kurzfristig schwerlich; möglicherweise auf lange Frist, durch Ermüdung des Widerstandes und der Bevölkerung; und dies mag der Grund sein weshalb heute militärische Stimmen von einer notwendigen Zehnjahrespräsenz der fremden Truppen in Afghanistan sprechen. Den Irak scheinen sie, auf Befehl Obamas, zunächst aufgegeben zu haben. Der fromme, aber wenig realistische Glauben herrscht vor, auf sich selbst angewiesen würden die Iraki sich schlussendlich selber retten. Wenn sie dies nicht vermögen, könnte es auch in ihrem Fall zu neuen Diskussionen unter den Amerikanern kommen, ob die Besetzungsarmee wirklich ganz abziehen kann. Die heutige Besetzung würde damit schrittweise in eine neue Kolonialunternehmung umschlagen. Dass die zivilen Mächte der westlichen Demokratien und ihre Volkswirtschaften dies heute noch zuliessen und zu bezahlen vermöchten, ist jedoch beinahe undenkbar.


Neue Konzepte
All dies macht deutlich, dass die Präsenz und die Kampfmethoden der regulären fremden Armeen kontraproduktiv wirken. Sie bringen mehr Unheil als Befreiung. Ein grundsätzliches Umdenken der gesamten Operationen in beiden Staaten ist notwendig. Es müsste sich an der Notwendigkeit ausrichten, das zu tun, was die angegriffenen und besetzten Völker selbst wollen. Dies wäre primär Abzug der fremden Truppen. Sekundär wohl auch, nach Möglichkeit zu vermeiden, dass die Bewaffneten aus dem eigenen Volk eine neue Tyrannei aufrichten. Doch dieses zweitrangige Ziel müsste notwendigerweise von den Bevölkerungen angestrebt und erreicht werden, nicht von den Besetzern, weil deren Präsenz gegen das Hauptziel, ihren Abmarsch, verstösst.


Inseln der Staatlichkeit
In beiden Ländern hat die Besetzung schon viel zu lange gedauert, so dass der Widerstand gegen sie von bedeutenden Gruppen als der "nationale" Widerstand gesehen wird. Doch es gibt Ausnahmen. Die erkennbarsten sind die der Kurden im Irak und jene der Hazara sowie anderer Minderheitsvölker in Afghanistan. Diese Minoritäten wissen, wenn die gegenwärtigen Rebellen gewinnen, werden sie in der Hauptstadt die Macht ausüben, und dann werden sie in ihrem Landesteil entweder kämpfen müssen oder kampflos untergehen. Falls die sunnitischen Rebellen im Irak eine erkennbare Chance erlangten, in Bagdad wieder eine Regierung zu bilden, würden sich wohl auch die irakischen Schiiten in einer ähnlichen Lage befinden wie die irakischen Kurden.
Hilfe für aufbauwillige Landesteile
Die westlichen Mächte müssten solche einheimischen Kräfte stützen, um ihnen die Möglichkeit zu gewähren, sich gegen die bisherigen Aufständischen, die Taleban in Afghanistan und die sunnitischen baathistischen und islamistischen Rebellen im Irak zu behaupten. Dies würde sie wohl nicht ein Tausendstel der Gelder kosten, die sie gegenwärtig für ihre kontraproduktive Kriegsführung verprassen. Doch es müsste sich um Unterstützung handeln, nicht um Besetzung. Vielleicht so wie die Pakistani die Taleban unterstützten, als sie sie 1996 lancierten und wie sie dies möglicherweise noch heute fortführen.
Besetzung und Instrumentalisierung der betreffenden Volksgruppen wäre um jeden Preis zu vermeiden. Es müsste entweder gelingen, einen einheimischen Widerstand gegen die heute vorherrschenden Banden der anti-amerikanischen Rebellion zu entfesseln, oder aber, wenn dies nicht funktioniert, wäre das Land seinem Geschick zu überlassen. Es müsste dann die Tyrannei der neuen Herrscherschicht durchstehen – nicht die erste, die das Land zu erleiden hätte. Dies ist wahrscheinlich immernoch besser für die heute Besetzten und ihre Besetzer als eine völlige Zermürbung des Staates und die Entstehung eines "failed state", wie man sie als Endprodukt eines fortgesetzten Ringens zwischen Besatzungstruppen und Widerstand aus den oben erwähnten Gründen zu gewärtigen hätte.
Die Unterstützung der lokalen, aufbau- und verteidigungswilligen Gruppen und Ethnien müsste Hand in Hand gehen mit Entwicklungshilfe für die betreffenden Minoritätsvölker und mit einer diplomatischen Grossaktion, die darauf abzielte, alle Anrainer- und Aussenstaaten von Gegeninterventionen zu Gunsten der Taleban und der Baath-Qa'ida Kämpfer abzuhalten. Dies sollte möglich sein, weil die Aussenstaaten ihrerseits das Übergreifen der islamistischen Ideologie auf ihre Territorien fürchten und weil allen von ihnen an Stabilität in Afghanistan gelegen sein sollte. Dies mit der möglichen Ausnahme Pakistans, wo die dortigen Geheimdienste der Armee von der Notwendigkeit überzeugt werden müssten, ihre langjährige Politik der Unterstützung und Instrumentalisierung von radikalen Islamistengruppen aufzugeben. Um dies zu erreichen, wäre ein Ausgleich zwischen Indien und Pakistan in der Kaschmirfrage notwendig.


Das Beispiel Somalias
Ein Blick auf Somalia kann die Lage klären. Dort besteht ein "failed state" seit 20 Jahren. In diesem zusammengebrochenen Staate haben sich regelmässig die radikalsten Gruppen, welche die rücksichtslosesten und brutalsten Mittel einsetzten, durchgesetzt. Die Weltgemeinschaft und die Amerikaner versuchten ihnen entgegenzuwirken, jedoch ohne bleibenden Erfolg. Doch es gibt Teilgebiete des ehemaligen Somalia, Somaliland und Puntland, wo die Bevölkerungen selbst sich eine eigene staatliche Ordnung geschaffen haben, die schlecht und recht funktioniert. Jetzt endlich, angesichts der Gefahr, dass die radikalsten der verschiedenen Islamistengruppen sich endgültig in Somalia durchsetzen könnten, haben die Amerikaner beschlossen, das Tabu zu brechen, nach dem sie nur mit dem (nicht wirklich vorhandenen) Staat Somalia Beziehungen pflegen sollten, und Schritte zu unternehmen, um mit den "separatistischen" aber funktionierenden Teilen des Landes zu sprechen und ihnen zu Hilfe zu kommen.

(Für Einzelheiten über die Entwicklung in Somalia:
http://www.bbc.co.uk/news/world-africa-11410852)

Bildquelle: www.taz.de

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Donnerstag, 16. September 2010

IRAK: Gefangen im blutigen Erbe der Tyrannei

Warum der Irak die Kultur der Gewalt nicht abzuschütteln vermag – Signale für eine düstere Zukunft

von Birgit Cerha

Der Irak sollte ein Vorbild an Freiheit, Toleranz und Achtung der Menschenrechte werden, ein „Leuchtfeuer der Demokratie“ entzünden, das die gesamte Region von Despotie befreien würde. So schwärmte einst US-Präsident Bush, um die Welt für seinen Krieg gegen den Bagdader Diktator Saddam Hussein zu motivieren. Eine Bilanz mehr als sieben Jahre nach der Befreiung vom saddam’schen Regime lässt erschaudern. Humanitäre Organisationen liefern grauenvolle Beweise dafür, dass der „neue Irak“ die Menschenrechte mit Füßen trampelt, wie wenige andere Länder der Welt. Bushs Vision wurde zum Alptraum. Heute steht der Irak bei der Vollstreckung der Todesstrafe weltweit an zweiter Stelle. Allein 2009 wurden – nach offiziellen Angaben - 79 Menschen gehenkt, an die 900, darunter 17 Frauen, warten derzeit in Gefängnissen auf ihre Exekution. Die erste Übergangsregierung unter Iyad Allawi hatte 2004 rasch wieder die von der US-Verwaltung nach dem Sturz des Regimes 2003 abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt und entschieden weigert sich die Regierung sie erneut zu suspendieren, um internationalen Menschenrechts-Standards gerecht zu werden. Denn den meisten Exekutionen gehen Verfahren voraus, die einem Rechtsstaat Hohn sprechen. Urteile werden meist auf durch Folter erzwungenen Geständnissen verhängt oder auf Aussagen von Geheiminformanten, fast nie jedoch auf der Basis von Beweisen.
Die Liste der Klagen von Menschenrechtsorganisationen ist lang und erschütternd: Derzeit schmachten mehr als 30.000 Gefangene in katastrophal überfüllten Anstalten unter menschenverachtenden Bedingungen, ein großer Teil davon seit Jahren ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechtsbeistand. Besonders brutale Foltermethoden, wiederholt mit Todesfolgen zählen zur Routine, ebenso wie wiederholte Vergewaltigungen von gefangenen Frauen, aber auch Männern.

Die Aufdeckung eines Geheimgefängnisses am früheren Flughafen Muthanna, westlich von Bagdad, wo 430 arabische Sunniten aus Niniveh, einer Al-Kaida Hochburg, unter Aufsicht einer Premier Maliki unterstehenden Behörde monatelang schwerste Folterqualen durchlitten hatten, bewog Joe Stock von Human Rights Watch zu der alarmierten Feststellung: Was hier „geschehen ist, ist ein Beispiel für gerade jene grausigen Misshandlungen, die die irakische Führung hinter sich lassen wollte“. Tatsächlich: Terror durch Massenfestnahmen, Folter und Misshandlungen sind Markenzeichen des „neuen Iraks“ geworden, insbesondere unter Maliki geworden. Jene, die Untersuchungen des Missbrauchs anstreben, werden bedroht oder ermordet, dem Roten Kreuz wird der Zugang zu Gefängnissen verwehrt. Amerikanische Geheimdienstkreise schätzen, dass 70 bis 90 Prozent der irakischen Gefangenen „irrtümlich“ im Zuge von Massenverhaftungen im Netz der Justiz verstrickt werden.

Was, so fragen sich unabhängige Beobachter und viele Iraker, hat sich denn überhaupt verbessert, seit das Zweistromland von einem der brutalsten Diktatoren des vergangenen Jahrhunderts befreit wurden, seit Politiker an den Hebeln der Macht in Bagdad sitzen, die Saddams Brutalitäten am eigenen Leib erlitten, in seinen Gefängnissen geschmachtet hatten oder ihr Leben nur durch Flucht ins Ausland retten konnten?

Nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 hatte die US-Besatzung das alte Justizsystem systematisch zerstört und durch ein neues ersetzt, das internationalen Rechtsnormen entspricht. Richter und 50 Prozent aller Anwälte verloren ihre Posten. Bis heute fehlt es deshalb an geschultem Personal, um die Masse der Gefangenen in fairen Prozessen abzuurteilen oder freizulassen, vor allem aber fehlt es an der Bereitschaft, die neuen Regeln eines Rechtsstaates einzuhalten, die Justiz krasser politischer Manipulation zu entziehen. Das Rechtssystem des „neuen Irak“, verseucht auch durch gravierende Korruption, „funktioniert fast nicht“, stellt ein internationaler Rechtsexperte fest.

Das Land ist fatal verstrickt im grausigen Erbe der Saddam-Despotie. Der Diktator hatte bei seinen Bemühungen, die irakische Gesellschaft und Kultur nach seinen Vorstellungen zu gestalten, Gewalt glorifiziert und zudem während der 12-jährigen internationalen Sanktionen zu deren Umgehung Kriminalität massiv gefördert. Seit dem ersten Militärputsch General Bakr Sidqis 1936 in Bagdad spielte Gewalt in der politischen Kultur des Landes eine entscheidende Rolle. Sie erhielt in dem Chaos, das dem Sturz der Baath vor sieben Jahren folgte, u.a. auch durch eine Verstärkung der Rolle der Stämme und deren Traditionen von Blutrache und Intoleranz gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen eine neue Dimension. Der bürgerkrieg hat die Kultur der Gewalt noch tiefer in die Gesellschaft eingebettet.

Die politisch Verantwortlichen schafften es nicht, einen dringend nötigen nationalen Versöhnungsprozess einzuleiten, um die Basis für ein friedliches Zusammenleben zu bereiten.

In den staatlichen Institutionen, insbesondere in den Sicherheitskräften fehlen Gefühle nationaler Identität fast vollends. Loyalitäten richten sich nach ethnischen Kriterien, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder politischen Gruppe.

Die Gefängnisse wurden zu Brutstätten neuen Extremismus. Unter den misshandelten, meist unschuldig festgehaltenen Häftlingen findet al-Kaidas radikale Botschaft fruchtbaren Boden. Der Haß auf die Herrscher im neuen Irak wächst, je unerträglicher die Qual der Gefangenen wird. Und viele der Mächtigen, die ihre Hände mit dem Blut Unschuldiger befleckt haben, sitzen ungeschoren weiterhin an den Schalthebeln. Niemand wagt es, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Kann der „neue Irak“ so den Weg zu Stabilität, zum Frieden finden, von Demokratie, Toleranz und Achtung der Menschenrechte ganz zu schweigen? Fällt das Land zurück in eine neue Despotie? Das sind die Fragen, die den Menschen heute nach hunderttausenden Toten auf der Seele lasten.

Bildquelle: AFP

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Montag, 13. September 2010

IRAN: Irans Regime schlittert in eine Sackgasse

Ein lange tobender Machtkampf im konservativen Establishment verschärft sich dramatisch: Will sich Ahmadinedschad der Geistlichkeit entledigen?

von Birgit Cerha

Nach mehr als einem Jahr einem für die Familie aufreibenden Tauziehen soll die amerikanische Sprachlehrerin Sarah Shourd in den nächsten Tagen freigelassen werden. Gegen eine Kaution von 500.000 Dollar darf sie sogar das Land verlassen, während ihre beiden Gefährten, die gemeinsam mit ihr wegen illegalen Grenzübertritts festgenommen und unter dem Vorwurf der Spionage bis heute inhaftiert sind, vor Gericht gestellt werden sollen. Shourd ist Opfer eines tobenden Machtkampfes im iranischen Regime, in dem sich nun die beiden Gegenseiten zum Kompromiss der Kaution durchgerungen haben. Ahmadinedschad wollte durch die Freilassung der vermutlich krebskranken Frau vor seiner Reise zur UNO-Generalversammlung nach New York US-Präsident Obama eine Geste der Großmut zeigen, während seine Gegenspieler in der Justiz eben einen solchen erhofften Prestigegewinn verhindern wollten und darauf beharrten, dass nicht der Präsident, sondern Irans Gerichte in solchen Fällen zu entscheiden hätten.
Der Fall lässt klar die Fronten in einem Machtkampf erkennen, der sich seit Jahresbeginn stetig verschärft, seit jener Zeit, als es dem Regime gelungen war, durch ungeheure Repressionen die an seinen Grundfesten rüttelnden demokratischen Gegner der „Grünen Bewegung“ zur – momentanen? – Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Als die Proteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 anschwollen, sich der „Geistliche Führer“ Khamenei entschieden hinter den heftig umstrittenen Ahmadinedschad stellte und dabei zugleich die Reste an Popularität verlor, da schlossen sich die konservativen Fraktionen aus Angst um das Fortbestehen des islamischen Systems zusammen. Doch sobald die unmittelbare Gefahr gebannt war, brachen die Konflikte erneut aus und verschärfen sich stetig mit dem zunehmend provokativen und autoritären Regierungsstil des Präsidenten. Ein jahrelanger Konflikt mit dem Parlament unter dessen pragmatisch-konservativen Präsidenten Ali Laridschani, einem mächtigen und engen Vertrauten Khameneis, spitzt sich derart zu, dass Ahmadinedschad jüngst drohte, er werde sich nicht mehr an seinen nach der Wiederwahl vor den Abgeordneten abgelegten Amtseid gebunden fühlen.

Jüngster Streitpunkt ist die Entscheidung des Präsidenten, außenpolitische „Sondergesandte“ zu ernennen und damit de facto einen parallelen außenpolitischen Dienst aufzubauen, der direkt ihm und nicht – wie das Außenministerium – Khamenei untersteht. Mehr als hundert Abgeordnete unterzeichnete daraufhin einen Protestbrief an den Präsidenten, dem Ali Laridschani vorwarf, nichts zu tun, „um die Probleme des Landes zu lösen“. Ein Appell, den Khamenei auf Drängen Ali Laridschanis und dessen Bruders und Justizchefs Sadegh an Ahmadinedschad zur „Einheit des Regimes“ richtete, stieß auf taube Ohren.

Besonders empört die konservative Fraktion, darunter auch viele Geistliche, die Ernennung von Esfandiar Rahim Mashai zum „Sondergesandten“ für den Nahen Osten. In politischen Kreisen Teherans kursiert der Verdacht, Ahmadinedschad wolle seinen engen Freund und Schwiegervater seines Sohnes zu seinem Nachfolger aufbauen, um sich damit, a la Putin in Russland, weiterhin entscheidenden politischen Einfluss und vielleicht nach vier Jahren Unterbrechung (wie in der Verfassung vorgesehen) die erneute Wiederwahl zum Präsidenten zu sichern. Mashai, dessen Ernennung zum Vizepräsidenten Ahmadinedschad vor einem Jahr aufgrund massiven Drucks des „Führers“ zurücknehmen musste, den er aber demonstrativ zum Chef des Präsidentenbüros und damit zu seinem wichtigsten Berater machte, ist konservativen Kreisen seit langem verhasst.

Er vertritt eine Mischung von liberalen Ideen – setzt sich für Kontakte mit Israel ein oder eine Lockerung der Kleidervorschriften für Frauen – und den okkultischen Glauben an die Rückkehr des „zwölften Imams“ der Schiiten, der seit dem 9. Jahrhundert verschwunden ist und eines Tages wiederkehren wird. Mashai, so die weithin kursierenden Gerüchte, gibt vor, gemeinsam mit Ahmadinedschad direkten Kontakt mit dem „Imam“ zu pflegen. Deshalb bedürfe er und der Präsident nicht mehr der Geistlichkeit, um die Macht im Staate auszuüben.

Während sich Ahmadinedschad vorerst noch loyal zu Khamenei verhält, deuten seine politischen Aktionen darauf hin, dass er sich eine eigene Machtbasis aufbaut. Khamenei steckt in einem Dilemma. Distanziert er sich nun von seinem Schützling, verliert er den Rest an Glaubwürdigkeit und das Parlament zögert – noch -, ein Absetzungsverfahren gegen den Präsidenten einzuleiten, dessen Folgen sich nicht absehen lassen.

Bildquelle: AP


Erschienen in der "Frankfurter Rundschau" am 13.09.2010
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Dienstag, 7. September 2010

JEMEN: „Unsere Schwerter sind gezückt“

Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel steht an vorderster Front der nächsten Welle des Jihad

von Birgit Cerha

Neun Jahre, nachdem islamistische Fanatiker am 11. September 2001 die Supermacht USA tief ins Mark trafen, haben sich die Spuren des mutmaßlichen Drahtziehers der Selbstmordattacken gegen das World-Trade-Center, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, verwischt. Während die USA ihren Anti-Terror-Krieg insbesondere in Afghanistan, wie auch im pakistanischen Grenzgebiet nun schon neun Jahre lang führen, machen Spekulationen die Runde, der aus dem Jemen stammende saudische Terrorfürst sei in Wahrheit vielleicht längst nicht mehr am Leben, seine wiederholten Videobotschaften seien gefälscht (von Al-Kaida, von den Amerikanern, wer weiß das?), um der Supermacht auch im Interesse ihres israelischen Verbündeten die Fortsetzung des „Anti-Terror-Krieges“ zu ermöglichen oder – nach einer anderen Version – dem Al-Kaida Netzwerk den Schein einer intakten Führung zu erhalten, der selbst die größte Militärmacht der Welt nichts anzuhaben vermag.

Ungeachtet solcher teils abenteuerlicher Verwirrspiele steht längst fest, dass heute weder von Bin Laden, noch dessen ägyptischen Stellvertreter Aiman al Zawaheri ernsthafte Gefahr für die Sicherheit der USA und wohl auch der westlichen Welt insgesamt ausgehen dürfte. In neun Jahren hat sich Al-Kaida entscheidend gewandelt. Wo immer bin Laden auch sein mag, die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung des 11. Septembers ist dank der intensiven Sicherheitsvorkehrungen geschwunden. Doch sein blutrünstiger Geist hat eine wachsende Zahl junger Islamisten weltweit in Bann gezogen, fanatisiert und zur Bereitschaft geformt, aus eigenem Antrieb terroristische Operationen durchzuführen. Die Terror-Gefahr besteht somit fort, sie hat sich nur verlagert. Die offenbar im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan stationierte Al-Kaida-Zentrale hat „Tochter-Organisationen“ geboren, die mitunter Verbindungen zu ihren „Schöpfern“ unterhalten, doch weitgehend selbständig agieren. Zu den größten dieser Gruppen zählen die „Al-Kaida im islamischen Maghreb“, Al-Kaida im Irak, oder „Tehrik-i Taliban Pakistan“. Ende August aber berichtete die „Washington Post“, der US-Geheimdienst CIA sei zu der Überzeugung gelangt, dass die im Jemen stationierte „Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel“(AKAH) heute eine weit größere Bedrohung für die USA und die westliche Welt insgesamt darstelle als die „Mutter-Organisation“. (http://www.washingtonpost.com/wpyn/content/article/2010/08/24/AR2010082406553.html)

Insbesondere durch intensive Angriffe mit Predator-Drohnen sei es laut „Washington Post“ US-Militärs gelungen die Kommandostruktur der Al-Kaida in Pakistan und Afghanistan empfindlich zu schwächen. Schon seit vielen Monaten berichten westliche Geheimdienste, dass viele „Jünger“ Bin Ladens zunehmend aus diesen beiden Ländern geflüchtet sind - in das Operationsgebiet des Iraks, andere in ihre saudische Heimat. Doch auch dort wuchs der Druck derart massiv, dass sie neue Zuflucht suchten und viele fanden und finden sie im Jemen, am weitgehend unkontrollierten südlichen Zipfel der Arabischen Halbinsel.


Gefahr eines offenen Krieges

Die alarmierende Entwicklung im arabischen Armenhaus fasste Nasser Ahmed al Bahri, ein abgesprungener Leibwächter Bin Ladens, jüngst in der Warnung zusammen: AKAH habe eine derartige Stärke erreicht, dass eine eskalierende Konfrontation mit Sicherheitskräften des Regimes Ali Abdullah Salehs schon bald „in einen offenen Krieg“ münden werde. Wenn US-Truppen hier nicht entschieden intervenierten, dann würde das Terrornetz im Jemen triumphieren.

Spätestens seit vergangenen Dezember konzentriert sich die Sorge amerikanischer Anti-Terror-Experten um die Sicherheit auch in der Heimat auf das einstige Arabia felix der Römer. Denn am ersten Weihnachtstag 2009 hatte Omar Farouk Abdulmutallab, 23-jähriger Sohn eines prominenten nigerianischen Bankers, versucht, ein US-Passagierjet beim Anflug auf Detroit zum Absturz zu bringen. Der Plan war im letzten Moment gescheitert. AKAH aber rühmt die Tat des in einem ihrer Lager im Jemen ausgebildeten Terroristen dennoch als Erfolg, weil es gelungen sei, die US-Sicherheitsvorkehrungen zu überlisten. Genau dies ist die Sorge westlicher Behörden. Denn immer wieder führen die Spuren von Anti-Terrorspezialisten in den Jemen. Im November waren 13 Soldaten im texanischen Fort Hood, der größten Militärbasis der USA von einem zum Islam übergetretenen Major ermordet worden. Der Täter, so stellten die Behörden fest, sei von Anwar al Awlaki, einem in den USA geborenen radikalen Geistlichen jemenitischer Herkunft, inspiriert worden. Awlaki fand unterdessen bei seinem mächtigen Stamm im Jemen Zuflucht. Vergangenen Juni wurde ein Texaner wegen des Versuchs angeklagt, AKAH Geld und nicht näher bezeichnete Güter zukommen zu lassen.

US-Außenministerin Hillary Clinton bezeichnete den Jemen unterdessen als „eine dringende Priorität der nationalen Sicherheit“ und US-Geheimdienstler befürchten, der Jemen werde sich zu einer bedrohlichen Terrordrehscheibe entwickeln, die vor allem auch die für den Westen so wichtige Ölregion des Persischen Golfs gefährde, aber auch dem islamistischen Extremismus im nahe gelegenen Somalia und in Ostafrika gewaltigen Auftrieb geben könnte.

Der Jemen bietet diesen gewalttätigen Extremisten ideale Bedingungen für weitgehend sichere militärische Stützpunkte, sowie ein reiches Rekrutierungsfeld unter der bitter armen Bevölkerung. Das Land ist gebirgig und teilweise schlecht erschlossen, die staatliche Autorität fast nur auf die Hauptstadt Sanaa und deren Umgebung beschränkt und hoch bewaffnete Stämme sind in der Lage und bereit, einem immer schwächer werdenden Regime zu widerstehen. (LEXIKON)

Die Ursprünge der Al Kaida im Jemen gehen auf die Zeit vor dem 9/11 zurück. Ihr Terror begann mit einem Selbstmordanschlag auf das Kriegsschiff U.S.S. Cole, bei dem im Hafen von Aden 17 US-Marines ums Leben kamen. Insbesondere ab 2001 bemühte sich Saleh, Washington seine Bereitschaft zur Kooperation im Anti-Terror-Krieg zu demonstrieren. 2002 töteten die Amerikaner den Chef der jemenitischen Al-Kaida, Abu Ali al-Harithi, in einer Dronenattacke, als er mit einem Allradfahrzeug östliche von Sanaa durch die Wüste fuhr. Ein Jahr später verhafteten die Behörden in Sanaa den zweiten Mann der Terrorgruppe, die daraufhin zur Bedeutungslosigkeit verkam.


Halbherziger Anti-Terror-Kampf

Zutiefst besorgt um seine eigene Macht in dem auseinanderstrebenden, zunehmend unkontrollierbaren Staat, sah Saleh deshalb im Al-Kaida-Fragment, das zudem sein Regime mit seinem Hass verschonte, die geringste Gefahr. Dem autoritären Staatschef ging es vielmehr darum, sich wertvolle US-Militärhilfe für den Kampf gegen seine zahlreichen innenpolitischen Gegner – die nach Separation strebenden Süd-Jemeniten ebenso wie die mächtigen und weitgehend autonomen Stämme – zu sichern. Auch innerhalb der jemenitischen Sicherheitskräfte fehlt es nicht an Sympathie mit diesen gewalttätigen Islamisten. Im Militär- und Geheimdienstapparat sitzt eine kleine, aber sehr mächtige Salafisten-Minderheit, die offene Konfrontation mit den Jihadis für Saleh fast unmöglich machte. So gelang es 2006 23 mutmaßlichen Al-Kaida-Terroristen aus einem Gefängnis in Sanaa zu entfliehen und in Stammesgebieten des südlichen und östlichen Jemen unterzutauchen. Unter ihnen war Nasser al-Wahishi, einst persönlicher Assistent Bin Ladens. Er baute die jemenitische Al-Kaida nach eigenen Worten „aus der Asche“ neu auf und hielt sich dabei an das strukturelle und ideologische Vorbild der Mutterorganisation. Wahishi vermittle auf Videoaufnahmen nahezu „dieselbe persönliche Dynamik, präsentiert sich in derselben Weise mit ganz ähnlichen Botschaften“ wie Bin Laden, stellt der Jemen-Experte an der Princeton University, Gregory Johnsen, fest.

Ende 2008 drängten die Führer der durch harte Anti-Terror-Kampagnen der saudischen Sicherheitskräfte schwer unter Druck geratenen Al-Kaida des Königreiches ihre Mitglieder, sich im Jemen in Sicherheit zu bringen und dort die Reihen der Gesinnungsgenossen zu stärken. Wenige Monate später beschlossen die beiden Gruppen die Fusionierung zur AKAH unter Führung Wahishis und dem 2007 aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo Bay in seine saudische Heimat deportierten Said Ali al-Shihri als Stellvertreter. Im Februar 2009 veröffentlichten die saudischen Behörden eine Liste von 85 meistgesuchten Terrorverdächtigen, von denen 26 im Jemen vermutet wurden, elf davon freigelassene Guantanamo-Häftlinge, die ein umfangreiches „Entradikalisierungs-Programm“ der Saudis durchgemacht hatten, unter ihnen auch Shihri.

Durch diese Fusionierung, so Johnsen, konnte sich AKAH „von einer lokalen Gruppe zu einer Regionalorganisation entwickeln und einen Schritt näher zur Durchführung globaler Terroraktionen rücken“. Heute steht AKAH auch nach Überzeugung Brian O’Neills vom „Combating Terrorism Center at West Point“ „an vorderster Front der nächsten Welle des Jihad“.

AKAH setzte sich als Hauptziel, den Jemen als Aufmarschgebiet der Al-Kaida zu nutzen, Kämpfer zu rekrutieren und sich dann zunächst auf Attacken im benachbarten Saudi-Arabien, sowie anderen Golfstaaten zu konzentrieren, bevor sie sich Zielen in Europa und vor allem in den USA zuwendet.

Heute führt die Organisation nach den Erkenntnissen westlicher Geheimdienste Ausbildungslager in Aden, Marib, und in den Alehimp und Sanhan-Regionen in Sanaa. Ende 2009 eröffnete AKAH ein großes Trainingszentrum in Abyan, in dem nach Geheimdienstberichten mehr als 400 Al-Kaida-Kämpfer aus dem Nahen Osten, darunter neben Jemeniten viele Saudis und Somalis Unterschlupf fanden. Wieviele Kämpfer sich derzeit im Jemen aufhalten, muß angesichts der weiten, vom Staat unkontrollierten Gebiete, Spekulation bleiben. Präsidentenberater Abdul Karim al-Eryani setzt die Zahl mit „bis zu 700“ wohl zu niedrig an. Ende Juli frohlockte ein AKAH-Militärkommandant, die Gruppe habe eine „12.000 Mann starke Armee“ im Süd-Jemen aufgestellt, um Sicherheitskräfte in der gesamten Region zu attackieren und schließlich „ein islamisches Kaliphat“ zu errichten.

Anfang August appellierte Shihri in einem Audiotape an Angehörige der saudischen Sicherheitskräfte, künftig Al-Kaida „zu dienen“, Zellen innerhalb des Militärs, der Polizei, des Innenministeriums zu bilden und vor allem auch Angehörige der Luftwaffe zu logistischer Unterstützung der AKAH zu gewinnen. Es sei „ein Leichtes“, auf diese Art das Königreich von den „tyrannischen Prinzen“ zu befreien, diese „zu töten“. Düster warnte er seine Landsleute daheim, sollten sie weiterhin in Loyalität zum Königshaus verharren, müssten sie „Allah fürchten“, da sie den „Scheichs des Satan“ dienten. Seit 2004 hatten Al-Kaida Terroristen mindestens viermal versucht, den für den Antiterror-Kampf zuständigen stellvertretenden Innenminister, Prinz Mohammed Bin Naif Bin Abdul Aziz zu töten. Vergeblich. Im April 2009 nahmen die saudischen Sicherheitskräfte elf Kämpfer fest, die aus dem Jemen, mit 30 Sprengstoffgürteln ausgerüstet, nach Saudi-Arabien eingedrungen waren.

Seit die Amerikaner nach dem Schock von Detroit verstärkt mit Drohnenangriffen und zuletzt auch Marschflugkörpern AKAH-Ziele direkt attackierten, hat sich der Konflikt im Jemen dramatisch verschärft. In Abyan wurden im Sommer bei einem Angriff mit Marschflugkörpern Dutzende Menschen, meist Frauen und Kinder, getötet. Kein Einzelfall. Das Blutbad weckte nach Aussage lokaler Jemeniten Sympathie unter der Bevölkerung für diese Extremisten.

Seit diesen verschärften Attacken änderte die AKAH ihre Strategie und erklärte das zuvor geschonte Regime Saleh zu ihrem direkten Feind, weil es mit den Amerikanern in diesem Kampf kollaboriere. „Unsere Schwerter sind gezückt und wir sind entschlossen, dieses Land (vom Regime Saleh) zu säubern“, drohte Gharib al Taizzi, hoher Militärkommandant der AKAH im Süd-Jemen Ende Juli. „Ihr (das Regime) deckt Verbrechen der USA, um die Bevölkerung dieses Landes in den Dienst amerikanischer Interessen in der Region zu stellen. Wir werden entschlossen auf diese Verbrechen reagieren.“ Gezielt attackieren die Jihadis nun jemenitische Sicherheitskräfte. Angriffe auf Öleinrichtungen, einen japanischen Öltanker, Touristen, die amerikanische, britische und italienische Botschaft in Sanaa zählten zu den jüngsten Operationen.



Verschmelzung mit den Stämmen

AKAH hat von den Fehlern der Schwesterorganisationen insbesondere im Irak und in Saudi-Arabien gelernt, wo auch die heimische Bevölkerung Terrorakten zum Opfer fiel und sich deshalb zunehmend gegen diese gewalttätigen Extremisten wendete. Im Jemen umwerben die Jihadis das Volk und sie finden tatsächlich zunehmend Sympathie und Schutz bei den mächtigen Stämmen. Nach dem Vorbild der Moslembrüder in Ägypten und der Hisbollah im Libanon hat AKAH begonnen, soziale Aktionen zu setzen, Gelder an Bedürftige zu verteilen und sogar im infrastrukturellen Bereich auszuhelfen, wo der Staat kläglich versagt. Sie bohrten Brunnen, um die dramatische Wassernot der Bevölkerung zu lindern, finanzierten Kranken ärztliche Behandlung und unterstützten Witwen mit monatlichen Zuwendungen, berichtet der aus der südjemenitischen Provinz Scheba stammende Bahri.

Die unabhängige Website „News Yemen“ meldete vergangenen November, dass sich eine über das Versagen der Regierung zutiefst empörte Bevölkerung in Scheba, heute eine der Hochburgen von AKAH, an die Jihadis gewandt hätte, um den katastrophalen Lehrermangel zu beheben. „Hier im Jemen setzt sich Al-Kaida (unterdessen) aus Söhnen der Stämme zusammen“, betont Bahri. Die Gruppe kann mit Zulauf aus der großen Schar von arbeitslosen jungen Stammesangehörigen rechnen und schon jetzt beginnen sich die Grenzen zwischen den Jihadisten und den Stämmen zu verwischen. Damit dürfte sich bald die Entwurzelung der Terroristen aus der Gesellschaft des Landes al Ding der Unmöglichkeit erweisen.

Hauptaktionsgebiet der AKAH ist der zunehmend gegen Diskriminierung durch die Zentralregierung rebellierende Süden, in dem seit der Wiedervereinigung 1990 und einem verlorenen Krieg gegen den Norden 1994 die Unzufriedenheit unter der Bevölkerung und die Sehnsucht nach erneuter Selbständigkeit wachsen. Die angespannte Atmosphäre, der weit verbreitete Hass unter der Bevölkerung gegen Sanaa schaffen fruchtbaren Boden für die Ziele der Jihadis.

Saleh wirft südjemenitischen Separatisten vor, mit der islamistischen AKAH gemeinsame Sache zu machen – eine Behauptung, die die weitgehend marxistischen südjemenitischen Rebellenführer energisch zurückweisen. Die Absicht des schwer bedrängten Präsidenten ist offensichtlich. Saleh hofft, durch solche Propaganda den von den USA unterstützten Anti-Terror-Krieg zum Kampf gegen seine südjemenitischen Feinde umzufunktionieren. Dies könnte sich aber als gefährlicher Bumerang erweisen, da sich AKAH und die Separatisten zunehmend einem gemeinsamen Feind gegenüber sehen und schließlich tatsächlich eine gemeinsame Front bilden könnten. Experten warnen vor „gravierenden Folgen“ für das Regime.



Auf dem Weg zum "neuen Bin Laden"?

Ein Zusammenbruch des dahinsiechenden jemenitischen Staates böte dem gesamten Al-Kaida Netzwerk einen einzigartigen Aktionsraum. Vom Jemen aus ließe sich die Unterstützung von Al-Kaida Operationen in Somalia noch wesentlich ausbauen. Schon jetzt dient dieses von Waffen strotzende Land als Kommandozentrum und logistischer Drehscheibe zwischen Asien und der Arabischen Halbinsel und als wichtige Waffen- und Munitionsquelle für die von Al-Kaida unterstützten Jihadi-Gruppen Somalias, Shabaab und Hisbul Islam.

Um diese Gefahr mit ihren unabsehbaren Folgen zu bannen, erwägt Washington eine drastische Erhöhung der Militärhilfe von derzeit 155 Mio.Dollar auf 1,2 Mrd. innerhalb der nächsten fünf Jahre. Doch der Plan birgt ein enormes Risiko. Es fehlt jede Garantie, dass Saleh, der eines der korruptesten aller arabischen Regime führt, diese Unterstützung nicht primär im Kampf um seine persönliche Macht einsetzt und zugleich solch massives US-Engagement eine traditionell ohnedies äußerst kritisch gegenüber der Supermacht eingestellte Bevölkerung mehr und mehr in die Arme der AKAH treibt.

Die AKAH sieht voll Zuversicht in die Zukunft und ihr Führer Wahishi, Hauptziel der US-Drohnen-Angriffe, hält sich bereit, in Bin Ladens Fußstapfen zu treten, sobald die Zeit gekommen ist. Er hat nach Einschätzung von Terrorexperten das Zeug dazu.

Bildquellen:
1.) Karte: "Freie Universität Berlin"
2.) Nasser al Wahisi: "The Jawa Report"

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LEXIKON: ARMENHAUS JEMEN

Der Jemen ist auf dem besten Weg, sich der Reihe der „gescheiterten Staaten“ anzuschließen.Das einzige Land auf der Arabischen Halbinsel, das über Wasser und reiche Vegetation verfügte und deshalb einst von den Römern als „Arabia felix“ gepriesen wurde, ist heute das ärmste der arabischen Welt. 40 Prozent der 23 Millionen Jemeniten leben unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenrate liegt über 35 Prozent und droht sich noch dramatisch zu erhöhen, da mit einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte gerechnet wird.
Zugleich trocknen die Wasserquellen aus. Sanaa droht als erste Hauptstadt der Welt bald kein Wasser mehr zu haben. Experten sehen den Hauptgrund für diese dramatische Entwicklung in einer katastrophal fehlgeleiteten Landwirtschaftspolitik. Begierig nach raschem Geld bauen jemenitische Bauern seit vielen Jahren nur noch Kat an, eine Pflanze, deren Blätter einen berauschenden Saft enthalten, dem bereits ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung erlegen ist. Nicht nur kann sich der Jemen deshalb nicht mehr selbst ernähren, nicht nur saugt der große Mengen Wasser verschlingende Kat die Lebensquellen aus. Die berauschte Bevölkerung versinkt mehr und mehr in lähmende Apathie, statt die Wirtschaftsproduktion voranzutreiben.

Zudem werden Jemens bescheidene Ölquellen, die aber dennoch die Wirtschaft ein wenig stützen, in wenigen Jahren ausgeschöpft sein. Internationale Entwicklungshilfe versickert häufig im Sumpf dieses Regimes, das zu den korruptesten der Welt zählt. Der Staat erfüllt die infrastrukturellen Grundbedürfnisse der Menschen bei weitem nicht. Es fehlt gravierend an Schulen und Lehrern. Die Regierung verspricht nun einen 15-Jahre-Plan, um die erschreckende Analphabetenrate von 50 Prozent allmählich zu senken.

Die Katastrophale Politik Ali Abdullah Salehs, seit 1978 an der Spitze des Staates, verschärft die Krise. Als sich der Jemen nach der irakischen Invasion Kuwaits 1990 auf die Seite Bagdads stellte, wiesen Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten 850.000 jemenitische Gastarbeiter aus. Bis heute hat der Jemen diesen sozialen Schock nicht verkraftet. Hinzu kam ein blutiger Bürgerkrieg, durch den Saleh 1994 den erlegenen Süd-Jemen zwang, in der Union mit Sanaa zu bleiben, die die unabhängige „Volksrepublik Jemen“ 1990 mit dem Norden geschlossen hatte. Saleh gewann den Krieg, doch nicht die Herzen der Süd-Jemeniten, die sich diskriminiert, vernachlässigt, benachteiligt fühlen und mehr und mehr nach früherer Eigenständigkeit zurücksehnen. Separatistenorganisationen halten zunehmend die Waffen gezückt. Zugleich flammt im Noren ein Krieg gegen die schiitische Minderheit, die ebenfalls mehr Rechte fordert, immer wieder auf und eine wachsende Zahl der mächtigen und bis auf die Zähne bewaffneten Stämme verweigert Saleh die Gefolgschaft. Zunehmend erfolgreich versuchen Jihadis der Al-Kaida die Stämme zu infiltrieren und damit das Regime noch mehr zu schwächen. Die staatliche Autorität reicht kaum über die Grenzen der Hauptstadt Sanaa und deren unmittelbare Umgebung hinaus.


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Montag, 6. September 2010

TÜRKEI: Die Türkei vor einem entscheidenden Referendum

von Dr. Arnold Hottinger

Die Hintergründe des Verfassungsreferendums vom 12. September

Das auf den 12. September bevorstehende Referendum über 26 Verfassungsänderungen in der Türkei soll auf Wunsch der Regierungspartei unter Ministerpräsident Recep Tayyib Erdogan tiefgreifende Reformen im türkischen Rechtswesen und im Bereich der Machtverteilung zwischen Militärs und Regierung einführen. In Erdogans Augen würden diese Verfassungsänderungen die Demokratie im Lande stärken, indem sie dafür sorgten, dass die demokratisch gewählten Politiker und Parlamentarier in Fragen der Besetzung und Kontrolle der Gerichte ein Mitspracherecht erhielten und sie sollen auch sicher stellen, dass die Armee künftig durch die Regierung und die Gerichte kontrolliert werden kann.
Dies war in der Türkei bisher nicht wirklich der Fall. Die Kontrolle über alle Gerichte und das gesamte Rechtswesen einschliesslich Entlassung und Einstellung der Richter und Beaufsichtigung der Aktivität der Staatsanwälte wird von einer "Obersten Behörde der Richter und Staatsanwälte" (Türkisch abgekürzt HSYK) ausgeübt.Sie ernennt auch die Richter des Verfassungsgerichtes. Die bisher sieben Mitglieder dieser Kontrollbehörde werden ihrerseits vom Obersten Appellationsgerichtshof und vom Staatsrat ernannt. Dieser in sich geschlossene Kreis führte über die Jahrzehnte hinweg zu einer Art Kastenkultur, die auch entschieden politische Züge aufweist. Die sich selbst erneuernde und sich selbst kontrollierende Gerichtsbarkeit war von Beginn an und blieb unabänderlich eine starre Verteidigerin des von Atatürk gegründeten säkulären Staates. Die Verfassungsänderungen schlagen vor, dass künftig das Verfassungsgericht von 7 auf 17 Richter vergrössert werde. 14 von Ihnen hätte der Staatspräsident zu bestellen und 3 das Parlament. Auch die Aufsichtsbehörde HSYK würde von 7 auf 22 Mitglieder vergrössert, und diese würden zur Hälfte von den 13000 Richtern des Landes gewählt, zur Hälfte weiterhin vom Obersten Appellationsgerichtshof bestimmt.
Die Gerichtsbarkeit war stets eine mit den Armeespitzen verbündete Macht, denn die Armeeoffiziere beriefen sich ebenfalls auf die Staatsordnung Atatürks und sahen sich als deren Verteidiger an. Auch in den Streitkräften entstand ein vergleichbarer, sich selbst ergänzender Kreislauf von Gleichgesinnten. Die Armee beförderte und ernannte,ihre eigenen Kommandanten, ohne dass die Regierungen dabei Mitsprache übten. Die Armee reinigte sich auch selbst. Offiziere, die den Armeespitzen missfallende politische oder religiöse Tendenzen aufwiesen, wurden ohne Rekursmöglichkeiten entlassen Sie konnten froh sein, wenn sie nicht wegenVerstoss gegen den Säkularismus des Staates vor Gericht gelangten. Es genügte, dass bei Armeekadetten Koranexemplare gefunden wurden, um ganze Jahrgänge von ihnen zu entlassen. Auch Gemahlinnen von Offizieren, die Kopftücher trugen, waren ein Grund für die Entlassung ihrer Gemahle.
Die beiden in sich geschlossenen Berufsstände von Armeeoffizieren und Richtern und Staatsanwälten waren in den vergangenen Jahren, mit Erdogan und seiner Partei, der regiereden Mehrheitspartei der Türkei, bitter zusammengestossen. Die Wächter der Atatürk Orthodoxie warfen der gewählten Regierung vor, sie verstosse gegen den Verfassungsgrundsatz des Säkularismus, der in der Türkei "Laizismus" genannt wird. Wenn sie sich gegenwärtig noch eingermassen daran halte, so ihre politischen Widersacher, sei es doch ihre Absicht, den Staat zu islamisieren, sobald sie die Macht dazu habe. Der Oberste Gerichtshof hätte 2007 beinahe die frisch wiedergewählte Regierungspartei Erdogans verboten und ihren Führern ein Politverbot auferlegt. Nur durch die Stimmen von dreien der sieben Richter, die für eine mildere Strafe eintraten und die eines einzigen, der für Freispruch votierte, kam die Regierungspartei damals mit einem Verweis und mit Geldbussen davon.

Die Regierung setzt sich gegen die Streitkräfte durch
Die Offiziere stiessen im vergangenen August zum letzten Mal, möglicherweise entscheidend, mit der Regierung zusammen. Damals sprachen sich der Staatchefs und der Ministerpräsident gegen einen der Offiziere aus, den seine Kollegen zum Generalstabschef ernennen wollten. Die zivilen Behörden warfen ihm vor, er sei in Verschwörungsmanöver gegen sie verwickelt. Ein paar Tage lang gab es geheime Sitzungen zwischen den Militärspitzen und den gewählten Häuptern der Regierung. Was genau geschah, ist nicht bekannt. Der Kandidat der Armee wurde nicht ernannt. Die Armee wurde zum Nachgeben gezwungen. Ein Armeeputsch, den Manche befürchteten, fand nicht statt. Zu den vorgeschlagenen Verfassungsänderungen gehört auch, dass entlassene Offiziere die Gerichte gegen ihre Entlassung anrufen können, und dass allgemein die Armeegerichtsbarkeit auf militärische Angelegenheiten beschränkt werden soll, während zivile oder administrative Vergehen von aktiven Armeeoffizieren vor die zivile Gerichtsbarkeit kämen. Dazu gehörten auch Putschversuche oder Putschpläne und Putschvorbereitungen. Ebenso soll es künftig allen türkischen Bürgern erlaubt sein, gegen Machtmissbrauch aller Autoritäten des Staates an die Gerichte zu appellieren.

Ergenekon
Zum Hintergrund der bitteren Auseinandersetzung zwischen Regierung und Streitkräften gehört der Monsterprozess des Ergenekon. Die Regierung liess seit 2007 Dutzende von Offizieren, meist pensionierte, aber auch einige noch aktive, verhaften und unter Anklage stellen. Der Verdacht lautete, sie hätten versucht, die politische Stimmung durch Unruhestiftung und Anschläge so zu beeinflussen, dass ein Armeeputsch möglich geworden wäre. Andere Anklagen drehen sich um die Urheberschaft von politischen Mordaktionen und geheime Ansammlungen von Kriegswaffen, die in den vergangenen Jahren zu konspirativen politischen Zwecken versteckt worden seien.
In der Türkei gibt es seit Jahren den Begriff des "tiefen Staates". Gemeint ist damit ein Geflecht aus Geheimdienstoffizieren, mafiösen Verbrechern und hohen Armeevertretern, das Aktionen durchführt, oftmals sind es Mordaktionen an politisch Unliebsamen, sehr häufig Kurden, die unaufgeklärt bleiben. Nur gelegentlich kam es zu Einblicken in diese Machenschaften, wenn Einiges davon nicht plangemäss ablief, und die Presse dadurch Gelegenheit erhielt, Einzelheiten aufzudecken. Doch gerichtliche Verfolgungen der mutmasslichen Täter fanden nicht statt. Bisher konnten aktive Armeeoffiziere nur von Armeegerichten verurteilt werden.
Ergenekon, ein alttürkisches Wort, das den Ort eines Ursprungsmythos der Türken bezeichnet, soll der Name eines geheimen Verschwörernetzes von Offizieren gewesen sein. Die Untersuchungen über die Angelegenheit laufen noch immer und weiten sich aus. Sie werden in den Augen der Regierung dadurch erschwert, dass die obersten Aufsichtsbehörden des Rechtswesens, des erwähnten HSYK, Druck auf die ihnen untergeordneten Beamten ausüben, besonders auf die von der Regierung mit den Nachforschungen betrauten Staatsanwälte, so dass diese befürchten müssen, sie könnten entlassen werden, wenn sie zu forsch vorgehen. Die Regierung versucht ihrerseits, die Staatsanwälte unter Gegendruck zu stellen, um zu vermeiden, dass ihre Untersuchungen im Sand verlaufen.
Man sieht, im Komplex der Ergenekon Prozesse kommt es zu einer Verschränkung der beiden sich selbst ergänzenden und auf die Atatürk Linie eingeschworenen Stände, jenes der Richter und jenes der Offiziere. Die Offiziere haben in der Vergangenheit ihre Machtposition auch dazu genützt, sich selbst bedeutende wirtschaftliche Vorteile zu verchaffen. Die Atatürk Linie hat natürlich auch ihre Anhänger unter den türkischen Zivilisten. Alle Oppositionsparteien berufen sich auf sie. Sie werben für ein "Nein" im Referendum. Sie werfen der Regierung vor, ihr Referendum solle nur dazu dienen, ihre Macht zu verstärken und allen Widerstand gegen sie zu brechen, um schlussendlich aus der Türkei wieder einen islamischen Staat zu machen und das Erbe Atatürks zu vernichten.

Die widersprüchliche Haltung der Kurden
Die Kurdenfrage, immer ein Hauptproblem der Türkei, führte zu einer weiteren Komplikation für die Aussichten des Referendums. In früheren Jahren haben viele Kurden ihre Stimmen, die einen bedeutenden Anteil aller Stimmen in der Türkei ausmachen, zu Gunsten von Erdogan eingelegt, weil sie sich von seinem Demokratieprogramm mehr Gerechtigkeit und Freiheit für ihre Anliegen versprachen. Die Armee und die Gerichtsbarkeit sind bittere Feinde aller kurdischen Autonomiebestrebungen. Doch die Friedenspläne der Regierung für die Kurden brachen zusammen, bevor sie noch Realität gewannen. Ein Schritt dabei war, dass das Verfassungsgericht die Partei der PKK nahen Kurden verbot und viele ihrer Politiker eingekerkert wurden. Es gab auch Kämpfer aus dem Exil, die heimkehrten und ihre Waffen niederlegten, weil sie auf die Zusagen der Regierung bauten. Doch die Gerichtsbehörden klagten sie an und sorgten für ihre Verurteilung trotz den Amnestieversprechen der Regierung. Seit Juli dieses Jahres haben die Kämpfer der PKK ihre Anschläge auf die türkische Armee wieder aufgenommen, und diese steht erneut in einem blutigen Ringen mit den kurdischen Extremisten. Dabei wird ,wie schon oft früher, die Linie zwischen Extremisten und Befürwortern einer kurdischen Selbstverwaltung von der Armee ignoriert. Alle politisch aktiven Kurden gelten ihr als Separatisten oder potentielle Sepataristen und werden entsprechend verfolgt.
Angesichts der neuen Anschläge auf die Armee hat sich auch Erdogan scharf gegen die kurdischen Rebellen gewandt. Die verbotene, den Kämpfern nahestehende Kurdenpartei trat erneut unter neuem Namen und neuen Anführern zusammen. Sie heisst heute harmlos genug Demokratische Friedenspartei (türkisch abgekürzt BDP). Ihre Führer sind so entäuscht über die Haltung des Regierungschefs gegenüber den Kurden, dass sie die Parole der Stimmenthaltung für das Referendum ausgaben, obwohl ihre bittersten Feinde gerade die Institutionen sind, die durch das Referendum an Macht verlieren sollen, Armee und Gerichtsbarkeit. Möglicherweise hofften die BDP Führer durch ihre Enthaltungsparole den Regierungschef zu Konzessionen gegenüber den kurdischen Belangen zu veranlassen. Doch er hat solche nicht angeboten, und ihre Enthaltungsparole wurde nicht zurückgenommen.
Man weiss nicht, wieviele der geschätzten 15 Millionen von türkischen Kurden sich an die Parole der PKK nahen Kräfte halten und wieviele doch für das Referendum stimmen werden. Möglicherweise hängen Sieg oder Niederlage der Regierungspartei von ihrer Entscheidung ab. Wenn die Regierung das Referendum verlieren sollte, würde dies den politischen Beobachtern auch als ein schlechtes Vorzeichen für die Parlametnswahlen gelten, die auf Juli 2011 bevorstehen.

Ein entscheidender Höhepunkt
Das Referendum hat den seit 2002 tobenden Kampf zwischen der parlamentarischen Mehrheit, und deren Regierung, gebildet durch die islamische demokratische Partei Erdogans, (offziell heisst sie Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei, türkisch abgekürzt AKP) und den starren aber immer noch mächtigen Institutionen aus der Atatürk Zeit, vor allem Armee und Gerichtlichkeit, auf einen entscheidenden Höhepunkt gebracht. Wenn der Regierungschef das Referendum verliert, was nicht ausgeschlossen werden kann, die Umfragen lassen alles offen, besteht eine ernste Gefahr, dass die Türkei in eine gelenkte Demokratie zurückfallen könnte, ähnlich wie sie vor 87 Jahren zu Atatürks Zeiten begann,. Die Möglichkeiten eines Anschlusses an die EG, zur Zeit wohl ohnehin eher beschränkt, würden damit, so gut wie zu Ende sein. Doch für die Türkei selbst wären die Folgen noch schwerwiegender. Eine echte Demokratie wäre auf diesem Wege nicht aufzubauen, und damit wären die Aussichten auf eine wirtschaftliche und kulturelle Moderne für die Türkei so ziemlich versperrt. Die Entwicklung in der Türkei ist auch für die gesamte islamische Welt von Bedeutung, denn der Türkei ist es seit dem ersten Wahlsieg von Erdogan im Jahre 2002 gelungen, als einer von wenigen islamischen Staaten und fast der einzige im Nahen Osten, Islam und Demokratie zu vereinbaren. Eine echte Demokratie schien zu entstehen, welche die Wünsche und Anliegen der muslimischen Mehrheit in ihre Politk einbezog.

Bildquelle: DPA

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Samstag, 4. September 2010

NAHOST: Israeli und Palästinenser reden in Washington

Mehr Friedensverheissungen als Friedensaussichten

von Dr. Arnold Hottinger

Neue direkte Gespräche zwischen Palästinensern und Israeli haben
unter amerikanischem Vorsitz gestern in Washington begonnen. Die
Amerikaner sind entschlossen, diesem diplomatischen Anlass maximale
Publizität zu gewähren. Die beiden Hauptgesprächspartner wurden
weltweit im Fernsehen vorgezeigt, unter amerikanischer Obhut von
Aussenimisterin Clinton. Sie sollen sich mit Obama treffen und auch zu
einem Essen im Weissen Haus eingeladen werden zusammen mit König
Abdullah von Jordanien und Präsident Husni Mubarak von Ägypten. In
zwei Wochen sollen sie dann weiter reden, und in weiteren zwei Wochen
noch einmal.
Es war von vorneherein deutlich, dass Obama und seine Regierung
diese „Friedensgespräche“ durchführen wollten. Die beiden
Kontrahenten, die Frieden zu schliessen hätten, liessen sich nur mit
Mühe von dem übermächtigen Vermittler, Amerika, an den
Verhandlungstisch ziehen. Der Grund dafür ist, dass sie wissen: ihre
Positionen sind so weit voneinander entfernt, dass es kaum eine
Möglichkeit gibt, zu einer Übereinkunft zu gelangen. Man verhandelt –
wie nun schon seit 17 Jahren – über eine Zweistaatenlösung. In den
Augen der Palästinenser müsste ihr Staat, die 23 Prozent Palästinas
umfassen, die seit 1967 unter israelischer militärischer Besetzung
stehen. Dazu gehörte auch Ostjerusalem. Die israelische
Rechtsregierung unter Netaniyahu ist aber der Meinung, Jerusalem
gehöre ihr, und in dem besetzten Westjordangebiet, wo inzwischen fast
eine halbe Million Israeli -rechtswidrig – angesiedelt wurden, wolle
sie weitere Siedlungen bauen. Die Kontrolle über die Grenzen des zu
gründenden „palästinensischen Staates“ wolle sie ausüben, wie auch die
Verfügung über das lebenswichtige Wasser. Eine Rückkehr der
vertriebenen Palästinenser nach Israel, woher sie vertrieben wurden,
oder nach den Westjordangebieten komme nicht in Frage.

Beiden Seiten ist es fast unmöglich, von ihren nun schon
„historischen“ Positionen abzurücken. Schon weil beide unter dem Druck
ihrer eigenen Extremisten stehen. Im Fall von Netanyahu sind sie an
der Regierung beteiligt. Ihr Ausscheiden, würde diese zu Fall bringen.
Im Fall der Palästinensischen Autorität sind sie mächtige politische
Rivalen, die in Gaza die Macht ausüben und im Westjordanland ihren
Einfluss durch Terroranschläge dokumentieren. Ihre Glaubhaftigkeit für
die Palästinenser nimmt zu, weil Mahmud Abbas bisher keinen
palästinensischen Staat erhandeln konnte.

Nur starker amerikanischer Druck auf Israel, die stärkere der beiden
Verhandlungsparteien, die durch die militärische Besetzung alle Karten
in ihrer Hand hält und daher auch die meisten Konzessionen zu machen
hätte, könnte den Verhandlungen zu einem Resultat verhelfen. Doch
dieser Druck wird nicht stattfinden. Obama hat darauf verzichtet, ihn
auszuüben. Warum? – Er mag viele Gründe haben. Einer der sichtbarsten
sind die auf November dieses Jahres bevorstehenden Parlamentswahlen in
Amerika. Seine Wahlberater sind der Ansicht, Druck auf Israel und der
dann zu gewärtigende Gegendruck der berühmten Israel Lobby AIPAC
(American Jewish Public Affairs Committee), einer der
einflussreichsten, die es in Washington gibt, würden sich katastrophal
für die Demokraten auf das zu erwartende Wahlresultat auswirken.
Weil er keinen Druck ausüben will oder kann, hat Obama den Ausweg
eines weithin sichtbaren Verhandlungsdramas gewählt, einer „Photo
Opportunity“, ja einer Soap Opera vor dem Fernsehen der Welt. Dies
vermittelt den amerikanischen Wählern und auch der Aussenwelt den
Eindruck, es geschehe doch etwas in der die ganze Weltpolitik
belastenden Frage des Dauerstreits zwischen Israeli und
Palästinensern. Die Belastung kommt daher, dass der bittere
Jahrhundertstreit um das Heilige Land sich zunehmend auf die Haltung
aller Muslime der Welt auswirkt.

Im Juni 2009 hatte Obama in seiner grossen Rede in Kairo
versprochen, er werde den erhofften Frieden voranbringen. Es geschah
nichts, aber nun sieht es so aus, als ob etwas geschehe - immerhin
über den kritischen Wahltermin vom nächsten November hinweg. Denn es
soll ja, wie bereits vorgegeben, „nicht länger als ein Jahr“ dauern,
bis die beiden Verhandlungspartner den erhofften Frieden zustande
bringen – oder, wie es den heutigen Voraussetzungen nach mit nur zu
grosser Sicherheit zu erwarten ist, einmal mehr scheitern.

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