Sonntag, 19. Dezember 2010

LIBANON: Der Libanon auf Messers Schneide

Die Hochspannung über die unmittelbar erwartete Anklage im Mordfall Ex-Premiers Hariri durch das Internationale Tribunal wächst – Stürzt das Land wieder in einen Bürgerkrieg?

von Birgit Cerha

In der Levante halten die Menschen den Atem an, da das „Sondertribunal für den Libanon“ (STL) zur Aufklärung des Mordes an Ex-Premier Rafik Hariri und 22 anderen Libanesen noch vor oder bald nach Jahresende seine ersten Anklagen erheben wird. Amin Gemayel, einst libanesischer Präsident in hochturbulenten Zeiten, hält die Situation im Land für „die gefährlichste … seit vielen, vielen Jahren“. Spannungen und Ängste quälen die Bürger im ganzen, politisch tief gespaltenen Land. „Hisbollah“, so der politische Analyst Nadim Shehdaheh, „betrachtet das UN-Tribunal als ein amerikanisch-israelisches Komplott gegen ihre Organisation, während (Saad) Hariri (der Sohn des Ermordeten und gegenwärtige Premier) und dessen sunnitische und christliche Anhänger mit Hilfe des Tribunals die Wahrheit hinter dem Attentat zu entlarven hoffen“.

Seit Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im August verkündete, dass nach seinen Informationen das STL zwei Mitglieder seiner Organisation als Täter anklagen wolle, hat die Spannung im Levantestaat, aufgeheizt durch einen heftigen Verbalkrieg, dramatisch eskaliert.

Nasrallahs Drohung, „die Hände jener abzuhacken, die es wagen sollten, Hisbollah zu berühren“, wird weithin ernst genommen. Wiederholt drängte der Schiitenführer die Regierung, das Tribunal zu boykottieren. Kooperation mit dieser internationalen Institution käme „einem Verrat gleich“. Doch Hariri, unterstützt vor allem von Saudi-Arabien, bleibt entschlossen, die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne mit internationaler Hilfe nicht aufzugeben..

Seit Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im August verkündet hatte, dass nach seinen Informationen das STL zwei Mitglieder seiner Organisation als Täter anklagen wolle, hat die Spannung im Levantestaat, aufgeheizt durch einen heftigen Verbalkrieg, dramatisch eskaliert.

Nasrallahs Drohung, „die Hände jener abzuhacken, die es wagen sollten, Hisbollah zu berühren“, wird weithin ernst genommen. Wiederholt drängte der Schiitenführer die Regierung, das Tribunal zu boykottieren. Kooperation mit dieser internationalen Institution käme „einem Verrat gleich“. Doch Hariri bleibt entschlossen, den Mord an seinem Vater mit Hilfe des STL aufzuklären.

Viele Libanesen befürchten, würden Hisbollah-Mitglieder tatsächlich angeklagt, könnte unkontrollierbare Gewalt ausbrechen. „Das Leben einer Person ist die erneute Zerstörung des Landes nicht wert. Wir wollen leben. Wir wollen, dass auch unsere Kinder leben. Wir alle wollen die Wahrheit wissen, aber wir wollen dafür nicht den Preis von Zehntausenden Menschenleben bezahlen“, umreißt ein Libanese die allgemeine Stimmung. Und vielen wird in diesen Wochen voll bewusst, dass zwar seit zwei Jahrzehnten die Waffen in der Levante schweigen, dass aber der zerstörerische Geist des Bürgerkrieges, der von 1975 bis 1990 mindestens 250.000 Menschenleben gefordert hatte, immer noch fortlebt. Insbesondere zwischen der schiitischen Bevölkerungsmehrheit und den Sunniten hat sich die Kluft dramatisch vertieft. Die Milizen bereiten sich auf eine blutige Konfrontation vor.

Libanons politische Kräfte, selbst Saad Hariri, gestehen im privaten Kreis ein, dass sie das Tribunal am liebsten sofort stoppen würden, um das Land vom Rand Abgrunds zu wegzureißen. Doch das internationale Gerichtsverfahren hat längst seine Eigengesetzlichkeit erreicht.

Das Attentat auf den Autokonvoi Hariris hatte im Februar 2005 die gesamte Region erschüttert. Es löste im Libanon nicht nur die „Zedern-Revolution“ aus, die zu dem demütigen Abzug der syrischen Besatzungstruppen nach fast drei Jahrzehnten führte, sondern stärkte die pro-westlichen Kräfte, die „14.März-Koalition“ unter dem Sunniten Saad Hariri, ermöglichte eine enge amerikanisch-französische Kooperation, die die Einsetzung eines UN-Tribunals zur Aufklärung des Attentats mit Sitz in Den Haag durchsetzte. Hariris Mord wird im Libanon gerne mit dem Attentat auf US-Präsident Kennedy 1963 verglichen, der ebenfalls bis heute ungeklärt blieb.

Die „14. März-Koalition“ und deren ausländische Bündnispartner (Saudi-Arabien, USA, Frankreich) setzten große Hoffnung in das STL. Es sollte in einer von politischen Attentaten gequälten Region einen Präzedenzfall für internationale Gerechtigkeit setzen, im Libanon der Serie von Morden an prominenten anti-syrischen Persönlichkeiten Einhalt gebieten. Vor allem aber hofften Amerikaner und Franzosen, eine Verschiebung der politischen Kräfte in der Region durch Stärkung der pro-westlichen Gruppierungen zu erreichen, damit Syrien zu destabilisieren und Irans wachsenden Einfluss zurückzudämmen – ein Ziel, das Hisbollah zum energischen Kampf gegen das Tribunal motivierte.

Solche Erwartungen erwiesen sich als extrem opitimistisch. Sie ruhten auf einer Fehleinschätzung des tatsächlichen Kräftegleichgewichts im Libanon, der Fähigkeit Syriens, sich internationalem Druck zu widersetzen und der abschreckenden Wirkung des Tribunals. Die Serie politischer Morde riß nicht ab und heute ist Syrien wieder die dominierende Macht in der Levante. Selbst Saad Hariri musste sich mit Damaskus aussöhnen, während Hisbollah mit Vetorecht in der Regierung sitzt und deren Geschäfte jederzeit blockieren kann. Tatsächlich ist das Kabinett seit dem 10. November nicht zusammengetreten. Mitte Dezember wurde eine Regierungssitzung über das Problem der „falschen Zeugen“ wegen Unvereinbarkeit der Standpunkte abgebrochen. Nasrallah fordert die Einvernahmen von Personen, die seiner Überzeugung nach gegenüber STL zu Lasten von Hisbollah falsch ausgesagt hätten. Hariri will davon nichts wissen.

Das Land ist politisch vollends gelähmt. „Finden wir keine Lösung, dann landen wir im dunkelsten aller Tunnels“, klagt der Beiruter „Daily Star“. Beiruter Analysten sind sich einig, dass kein Sieger aus dieser Krise hervorgehen kann. Erfüllt Hariri Nasrallahs Forderungen nach Distanzierung vom STL, wäre dies ein schwerer politischer Schlag, auch für Libanons Sunniten insgesamt. Hisbollah anderseits riskiert einen empfindlichen Gesichtsverlust als heroische Befreiungsbewegung, wenn sie tatenlos der Verhaftung ihrer Mitglieder zusieht. Ihre Anhängerschar im Libanon und darüber hinaus hat sich längst von Nasrallahs israelisch-amerikanischen Verschwörungstheorie zur Vernichtung der Organisation überzeugen lassen.

Nasrallah stehen nun mehrere Optionen offen. Er kann durch totalen Regierungsboykott den Staat vollends lähmen; er kann die Massen seiner Anhänger zu zivilem Ungehorsam aufrufen (schon kündigte die mit Hisbollah verbundene Arbeitergewerkschaft einen Streik gegen Preiserhöhungen an. Zahlreiche Demonstrationen sind für Januar geplant); Nasrallah kann auch wichtige Verkehradern und den Flughafen blockieren; er kann seine Guerillas zu bewaffneter Aktion rufen, Gegner gefangen nehmen, Beirut und andere Landesteile besetzen, wie Hisbollah es kurzfristig im Mai 2008 getan hatte.Doch damit würde Hisbollah viel Sympathie unter den Libanesen verlieren und einen erneuten Bürgerkrieg will Nasrallah offenbar auch nicht riskieren. So schlug er zuletzt versöhnliche Töne an, verurteilte den Mord an Hariri als „nationales Verbrechen“ und stellt zugleich aber siegessicher fest: „Die Verschwörung des STL wird vom Winde weggeblasen“ – was immer dies bedeuten mag.

Der teilweise problematische und äußerst langsame Verlauf der Untersuchungen hat zudem nicht nur im Libanon dem Ansehen des STL Schaden zugefügt. Insbesondere kann Nasrallah die Tatsache für sich nutzen, dass sich nach jüngst durchgesickerten und von der Canadian Broadcast Corporation CBC verbreiteten Informationen die Anklage des Tribunals primär auf abgehörte Mobiltelefonate stützt. Mehrere Mitarbeiter der libanesischen Telekom wurden im Laufe des vergangenen Jahres wegen Spionage für Israel verhaftet und Libanons Telekommunikations-Minister Sherbel Nahhas präsentierte vor der Presse eine Serie von technischen Beweisen, die nach seinen Worten darauf hinwiesen, dass Israel das libanesischen Kommunikationssystem derart unterwandert habe, dass sie „Parasiten“ innerhalb bestehender Linien einpflanzen konnten. Solche Feststellungen erleichtern es Hisbollah, die erwarteten Anklagen durch das Tribunal als von Israel manipulierte Fälschungen abzutun.

„Viel wichtiger als die Mörder Hariris zu finden“ sei es in dieser explosiven Situation einen Weg zu finden, wie die Eskalation der Krise zwischen Sunniten und Schiiten im Libanon gestoppt werden könne, meint Drusenführer Walid Dschumblatt, der sich jüngst von seinem langjährigen Verbündeten Hariri gelöst hat und eine unabhängige Position einnimmt. Genau dies versuchen äußere Kräfte in intensiver Diplomatie, Hisbollahs Gönner Syrien, Hariris engster Verbündeter Saudi-Arabien, das neutrale Katar, ebenso wie die Türken, die Franzosen und die Amerikaner. Ein Kompromiß, der keinem wirklich weh tut, könnte die aktuelle Krise kurzfristig entschärfen. Die Grundprobleme – mangelnde Souveränität und nationale Identität, tiefes gegenseitiges Misstrauen und Manipulationen von außen - lösen, wird er nicht.

Bild: Rafik Hariri

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Montag, 13. Dezember 2010

ÄGYPTEN: Politisches Erwachen am Nil

Durch seine massive Wahlmanipulation beging das Regime Mubarak einen gavierenden strategischen Fehler – Die empörte Opposition sucht neue Wege

von Birgit Cerha


Mehr als eine Woche nach den Parlamentswahlen in Ägypten, die am 5. Dezember mit einer zweiten Runde endeten, hat sich der Zorn im Land über gravierende Manipulationen nicht gelegt. Ganz im Gegenteil. Dabei sind die Ägypter, die ihr Präsident Mubarak seit drei Jahrzehnten mit Notstandsgesetzen regiert, krasse Übergriffe auf Grundfreiheiten gewöhnt. Freie Wahlen hat es am Nil wohl nie gegeben. Bisher aber hatte sich Mubarak bemüht, den Anschein von Demokratie zu wahren. Diesmal nicht. Das Feigenblatt ist dahin.

„Oh Gott, bitte nimm den Präsidenten zu Dir“, riefen empörte Demonstranten, die aus mehreren Teilen des Landes nach Kairo geströmt waren. Erzfeinde aus den Reihen der Moslembrüder – der stärksten Oppositionsgruppierung – und der Liberalen schlossen einander in die Arme, andere Laizisten, Sozialdemokraten, Mitglieder der Bewegung für Veränderung „Kifaya“ und der „Nationalen Vereinigung für Veränderung“ des ehemaligen Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde el Baradei reichen einander die Hände, entschlossen, eine gerichtliche Annullierung der Wahlen durchzusetzen. „Ich glaube, dies ist der Beginn eines Frühlings der Freiheit in diesem Land, denn zum erstenmal finden sich alle Kräfte zusammen“, frohlockt Osama al Ghazali Harb von der „Demokratischen Front-Partei“. Ägypten werde eine Welle des Protests gegen „diese illegale Situation“ erfassen.
Tatsächlich zeigen sich erste Anzeichen, dass diese Wahlen die Ägypter aus ihrer politischen Lethargie herausreißen könnten. „Al Ahram“ berichtet von einer Flut empörter Leserbriefe. Das Regime ist eindeutig zu weit gegangen. 95 Prozent der Abgeordneten im neuen Parlament, das Montag mit seiner ersten Sitzung eröffnet wurde, gehören der regierenden „Nationalen Demokratischen Partei“ (NDP) an. Die Moslembrüder, die im alten Abgeordnetenhaus ein Fünftel der Sitze hatten, schafften den Einzug nicht, ihre Rivalin, die liberale „Wafd“, zog den einzigen gewählten Abgeordneten zurück. Selbst NDP-Mitgliedern ging die Manipulation zu weit. Einige schlossen sich den Protestierenden an.

Unabhängige politische Analysten sind überzeugt, dass das Regime einen schweren strategischen Fehler begangen und damit jegliche Legitimität verloren hat. Baradei, der sich monatelang für demokratische Veränderung eingesetzt und schließlich frustriert für einige Zeit wieder der Heimat den Rücken gekehrt hatte, klagt in einem Online-Video, das Regime habe alle Chancen auf Veränderung abgetötet“. Er fordert die Einheit der Opposition zur Durchsetzung eine Reihe von Forderungen, darunter die Aufhebung der Notstandsgesetze.

Die Gründung eines „Schattenparlaments“ ist geplant, dem u.a. 120 nicht wiedergewählte Abgeordnete angehören sollen, sowie die Erarbeitung eines neuen Verfassungsentwurfs der demokratische Freiheiten garantieren soll.

Ob diese Wahlmanipulation tatsächlich, wie manche Beobachter meinen, fataler Ausdruck höchster Nervosität eines Regimes ist, dessen vom Alter gezeichneter Führer die Nachfolge bis heute nicht zu regeln vermochte, muss vorerst Spekulation bleiben. Fest steht, dass die NDP sich für die Präsidentschaftswahlen in einem Jahr jeglichen Widerstands im Parlament entledigt hat. Zugleich hat sich jüngst immer deutlicher gezeigt, dass dem Präsidentensohn Gamal Mubarak keineswegs auch in höchsten Führungskreisen unumstrittener Kandidat für die Staatsführung ist. Ganz im Gegenteil, der Widerstand gegen ihn zwang den liberalen Ökonomen, sich vermehrt aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Die mächtige alte Garde im Militär- und Sicherheitsapparat favorisiert hingegen den 74-jährigen Geheimdienstchef und engen Präsidentenberater Omar Suleiman, der auch enge Beziehungen zu den USA pflegt. Doch in den vergangenen Monaten begann auch Suleimans Stern zu sinken. So taucht nun ein neuer Anwärter auf: Ahmed Shafiq, gegenwärtig Minister für Zivilluftfahrt und ehemaliger Kommandant der Luftwaffe. Er gilt als Mann mit „guter Reputation“, hart, energisch, ehrlich und zurückhaltend.. Der 69-Jährige verfügt über ausgeprägte Managerbegabung und, so meinen informierte Kreise, die Fähigkeit, zwischen den beiden miteinander offenbar heftig rivalisierenden Machtzentren innerhalb der NDP ausgleichen und vermittelnd zu wirken. Eine solche Integrationsfigur ist als Folge des Wahlschocks dringend von Nöten, um die NDP vor einer zersetzenden Krise zu bewahren.

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Freitag, 10. Dezember 2010

SAUDI-ARABIEN: Die Ängste der Autokraten

Ein Artikel über die Königsfamilie kostet die Freiheit – Internationale Appelle zugunsten Prof. Mohammed Abdulkarims

von Birgit Cerha


Es ist gar nicht lange her, das Saudi-Arabiens König Abdullah die Bürger seines ölreichen Wüstenstaates ermutigte, ihre „legitimen Sorgen“ auszusprechen. Wer aber solche Empfehlung ernst meint, hat viel im Reiche der al-Sauds zu riskieren. Das erfuhr eben Mohammed Abdulkarim, Professor für islamisches Recht an der Imam Mohamed bin Saud-Universität in Riad, Menschenrechtsaktivist und Chefredakteur des online Magazins Mutamar Al-Umma. Der reformorientierte Intellektuelle sitzt seit 5. Dezember im Al-Hayer Gefängnis von Riad, wohin das Königshaus unbequeme Kritiker und politische Gegner zu verbannen pflegt.

Abdulkarims „Verbrechen“ war die Veröffentlichung einer Abhandlung über die königliche Familie zunächst auf seinem Facebook und später auf diversen Online-Sites. Die Reaktion der Behörden, die den Professor von vier Geheimdienstlern in zivil aus seinem Haus abholen ließen, illustriert die enorme Empfindlichkeit der autokratischen Herrscher, wenn es um Berichterstattung oder Spekulationen über das Königshaus und dessen Zukunft geht, zumal der Artikel nur einen Tag nach einer Operation erschien, der sich der 87-jährige Abdullah in den USA unterzogen hatte. (siehe IFAMO-Artikel „Krise in Saudi-Arabiens Gerontokratie“)

In seinem Artikel „Suche nach dem Schicksal des saudischen Volkes“ setzte sich Abdulkarim mit der Frage der Nachfolge für König Abdullah und Streitigkeiten innerhalb der Herrscherfamilie auseinander. Er wagte sich sogar so weit vor, ein Auseinanderbrechen des Königreiches im Falle von Abdullahs Tod nicht auszuschließen. „Was, wenn die Familie durch interne Konflikte oder durch äußere Faktoren zerrissen wird? Soll die Einheit (des Königreichs) und das Schicksal des Volkes davon abhängen, ob die königliche Familie bleibt oder geht?.... Einige der Staatsmänner wollen ein Regime erhalten, das nur ihre eigenen Interessen schützt und dies wird durch Autokratie, Hegemonie, Gier, Manipulation und Bestechung“ ermöglicht.

Saudische und internationale Appelle zur Freilassung des liberalen Professors fruchteten bisher nichts. Abdulkarim bleibt – ohne Anklage – in Haft. Jeglicher Kontakt zu seiner Familie wird ihm verwehrt. In einer umfangreichen Kampagne setzen sich Saudis im Internet für das jüngste Opfer saudischer Repression ein. Der Fall hat zugleich eine intensive Diskussion über die Meinungsfreiheit im Königreich vom Zaum gebrochen. Das saudische „Human Rights Observatory“ prangert diese klare Verletzung der Menschenrechte offen an und spricht von einer sich vertiefenden, gefährlichen Kluft zwischen der Königsfamilie und deren Untertanen.

Nur wenige Länder der Welt treten Meinungsfreiheit so unerbittlich mit Füßen, wie Washingtons engster Verbündeter am Persischen Golf. „Reporter ohne Grenzen“ stuft das Königreich auf seiner Liste von 178 Pressefreiheit achtenden Ländern an 157. Stelle ein.

Und Abdulkarim ist keineswegs das einzige Opfer. Wieviele Gewissensgefangene in saudischen Gefängnissen schmachten ist unklar. Einsatz für politische Reformen haben bereits zahlreiche Saudis hinter Gittern gebracht. So ist etwa der Publizist und Menschenrechtsaktivist Mekhlef bin Dahhawal-Shammari seit Juni in Haft, weil er es gewagt hatte, politische und religiöse Führer zu kritisieren.

Besonders radikal gehen die Behörden gegen das Internet vor. Offiziell heißt es, sie hätten an die 400.000 Websites blockiert, vor allem jene, die sich mit religiösen Fragen, Menschenrechten und liberalen, oppositionellen Ansichten befassen. Mit Hilfe einer Fülle von Gesetzen versucht das Königshaus den so bedrohlichen Teufel des Internets in Schach zu halten, zu verhindern, dass das Internet zu einem Forum freier Diskussion wird, die die al-Sauds bisher so effizient zu ersticken vermochten. Dennoch benützen heute nach Schätzungen 38 Prozent der Bevölkerung das Internet und die Zahlen steigen, trotz drakonischer Restriktionen. So wurden etwa in Internet Cafes versteckte Kameras installiert, den Besitzern droht bis zu zehn Jahre Gefängnis, wenn ihre Einrichtung zur Verbreitung von Informationen benutzt wird, die den „Werten des Königreiches“ widersprechen.

Solch scharfe Kontrollen zeigen die Entschlossenheit des Regimes, unter allen Umständen die derzeit herrschende höchst restriktive soziale Ordnung aufrecht zu erhalten.

Bild: Mohammed Abdulkarim

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IRAN: Anhaltende Turbulenzen unter der Oberfläche

Radikaler Geistlicher gesteht: Repression konnte die Opposition nicht vernichten – Khamenei sorgt sich um seine Nachfolge

von Birgit Cerha

Die Bilder freiheitshungriger und todesmutiger Iraner, die sich von den Schächern des Regimes niederknüppeln lassen, sind längst aus den westlichen Medien verschwunden. Hunderte von politischen Gefangenen, darunter der 80-jährige erste Außenminister der Islamischen Republik Ibrahim Yazdi, die seit vielen Monaten unter elenden Bedingungen in iranischen Gefängnissen schmachten, erscheinen von der Welt vergessen. Nur gelegentlich erwähnen sie pflichtschuldig UNO oder manche Vertreter westlicher Regierungen. Einzig das Phantom der iranischen Atombombe und die Ängste naher und ferner Länder beherrschen wieder die Berichterstattung über die „Islamische Republik“. Vergessen sind auch Millionen von Iranern, die von ihren tyrannischen Herrscher qualvoll terrorisiert werden. Kaum Beachtung wurde auch jenen Studenten geschenkt, die sich am „Studententag“ zum Protest gegen „Mahmud, du Verräter“ (gemeint ist Präsident Ahmadinejad) in die Straßen iranischer Städte wagten. Seit Gründung der „Islamischen Republik“ ruft das Regime in Erinnerung an bei anti-amerikanischen Demonstrationen 1953 unter dem Schah ermordete Studenten die lernende Jugend des Landes zu Kundgebungen auf. Im Vorjahr nutzten Zehntausende empörte Iraner diesen Gedenktag, dem 7. Dezember, zu Demonstrationen gegen die manipulierte Wiederwahl Ahmadinedschads. Blut und Gefängnis waren die Folge. Bis zu 80 Studenten, viele davon Führer einst einflussreicher Studentenorganisationen sitzen immer noch in Haft.Sind es die Terrormethoden der Despoten, ihre bedingungslose Zensur und bedrohliche Einschüchterung oder ist es die Gleichgültigkeit des Westens, die verhindern, dass der Großteil der freien Welt über das anhaltende Aufbäumen der Geknechteten erfährt? „Es ist schwer zu erkennen, was wirklich (am 7. Dezember) geschah“, gesteht die informative iranische Website „Tehran Bureau“ ein. Berichte von Studenten-Demonstrationen in zahlreichen Städten dringen an die Öffentlichkeit, von frustrierten Jugendlichen, die den „Geistlichen Führer“ Khamenei auffordern „die Stimmen der Studenten zu hören, bevor es zu spät ist“, von entschlossenen jungen Studierenden, die „die Universitäten als letzte Bastion der Freiheit“ unter allen Umständen verteidigen wollen, und von den Führern der oppositionellen „Grünen Bewegung“, Mussawi und Karrubi, die die lernende Jugend des Landes bedrängen, doch ja nicht „die Hoffnung“ zu verlieren. Mehr als 50 Demonstranten sollen verhaftet worden sein. Vielleicht noch mehr.

Seit dem offensichtlichen Wahlbetrug im Juni 2009 und den darauf folgenden monatelangen Massenprotesten sind Irans Universitäten zum Hauptziel der Bemühungen Ahmadinedschads und der ihn stützenden Revolutionsgarden geworden, ihre Macht zu konsolidieren und den Widerstand zu brechen.

Dass dies jedoch auch außerhalb der höchsten Lehranstalten nicht gelang, gestand eben der Vorsitzende des mächtigen „Wächterrates“, Ahmad Janati ein: Trotz des Einsatzes von repressiven Methoden hätte der „Feind“ nicht vollständig eliminiert werden können. Es ist das erste Mal, dass ein hoher Vertreter des „Gottesstaates“ offen und ausdrücklich die Anwendung von Unterdrückungsmethoden gegen die Masse der gewaltlos demonstrierenden Iraner einbekannt und auch gleich noch zugab, dass diese ihre volle Wirkung verfehlt hätten. Janati gilt zudem als der ideologisch Hauptverantwortliche der ungeheuerlichen Brutalitäten, mit denen das Regime die Protestkundgebungen niedergeschlagen hatte.

Alarmiert zeigt sich auch Ataollah Salehi, Oberkommandierender der iranischen Armee. Er beklagt „Verhetzung“ in den Reihen der Streitkräfte und warnt, „niemand soll glauben, dass die Armee gegenüber Aufwieglern (gemeint sind Sympathisanten der „Grünen Bewegung) Milde walten lässt“. Die Armee war, im Gegensatz zu den ideologisch indoktrinierten Revolutionsgarden, nicht zur Niederschlagung der Demonstrationen eingesetzt worden. Das offizielle Bekenntnis des Generals lässt darauf schließen, dass es der „Grünen Bewegung“ im Laufe des vergangenen Jahres gelungen ist, die Streitkräfte, wie auch andere Institutionen der „Islamischen Republik“ zu beeinflussen.

Die „Grüne Bewegung“ zeigt sich in den Straßen der Städte weit seltener als vor einem Jahr, doch sie stellt zweifellos die weitgehend „schweigende Mehrheit“. Mussawi setzt offenbar längst nicht mehr auf die Macht der Straße, um Freiheiten und den Sturz Ahmadinedschads durchzusetzen, sondern auf einen internen Zersetzungsprozeß des despotischen Regimes. Dabei hilft zweifellos auch die erstaunliche Zivilcourage vieler Iraner, die ungeachtet der massiven Repression zum Widerstand entschlossen bleibt. So machen in Blogs und auf Internetseiten Berichte über iranische Bürger die Runde, die Augenzeugen von Festnahmen anderer durch die paramlitärische Bassidsch oder die Revolutionsgarden werden und physisch, verbal oder mit Hilfe der Handy-Kameras dies zu verhindern versuchen. Als Folge davon haben Sicherheitskräfte begonnen, unliebsame Bürger nicht mehr in der Öffentlichkeit abzuschleppen, denn jeder Polizist fürchtet heute, beobachtet, mit Fotos oder Videos abgelichtet und im Internet präsentiert zu werden.

Auch wenn es an der Oberfläche ruhig erscheint, herrscht im „Gottesstaat“ immer noch Hochspannung. Mehr als der Konflikt mit der „Grünen Bewegung“ setzt Ahmadinedschad der Machtkampf mit den islamischen Fundamentalisten unter Führung Parlamentssprechers Ali Laridschani zu. Seit einigen Wochen läuft im Parlament eine Aktion, Ahmadinedschad zur Rechenschaft zu ziehen und ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einzuleiten. Die Vorwürfe lauten: Versuche zur Zentralisierung der Macht in seinen Händen; Verletzung iranischen Rechts, da er ohne Zustimmung des Parlaments 590 Mio. Dollar aus dem Reservefonds der Zentralbank abgezogen hatte, und katastrophales Mismanagement der Wirtschaft.

Doch solange Khamenei eine Entmachtung seines Schützlings nicht billigt, können auch die Abgeordneten Ahmadinedschad nichts anhaben. Und der „Führer“ hat all sein Prestige in diesen ungeliebten Präsidenten gesteckt, ihm jetzt den politischen Todesstoß zu versetzen, könnte seinen eigenen Untergang besiegeln.

Die Erhaltung seiner Macht für sich und seine Familie aber erscheint Khameneis Hauptsorge zu sein. Wikileaks löste mit den von ihm publizierten Informationen aus amerikanischen diplomatischen Quellen über die tödliche Krankheit (Leukämie im Endstadium) des „Geistlichen Führers“ eine Flutwelle an Gerüchten und Spekulationen im Iran aus. Seit mehr als einem Jahrzehnt munkeln Iraner bereits über eine tödliche Krankheit ihres teilweise tief verhassten Herrschers. Sein unmittelbar bevorstehender Tod wurde wiederholt prophezeit. Ob der Bericht amerikanischer Diplomaten, der sich auf einen engen Vertrauten von Ex-Präsident Rafsandschani stützt, vielleicht nur eine gezielte Fehlinformation dieses Meisters der politischen Tricks und Intrigen ist, um für sich das Tor zur höchsten Macht im „Gottesstaat“ zu öffnen, muss vorerst offen bleiben.

Fest steht jedoch, dass Khamenei durch seinen jüngsten, höchst ungewöhnlichen Besuch in der Heiligen Stadt Qom das Feuer in der Gerüchteküche heftig geschürt hat. Dabei habe er sich, so munkelt man im Iran, um Unterstützung der Großayatollahs, insbesondere Hossein Vahid Khorasanis, für seinen Sohn Mojtaba als seinen Nachfolger bemüht. Khorasani, ein ehemaliger Lehrer Mojtabas, habe sich – offenbar aus prinzipiellen Auffassungsunterschieden – geweigert, Khamenei zu treffen. Ohne Unterstützung der Großayatollahs hat Khamenei keine Chance, seinen Sohn als Nachfolger zu küren. Es sei denn, er nähme de Mantel des Imams an, den sein Vorgänger und Revolutionsführer Khomeini getragen hatte und der ihn, ungeachtet seiner minderen theologischen Qualifikationen, zum neuen „Führer“ bestimmt hatte. Seit einiger Zeit lässt sich Khamenei von seinen Getreuen „Imam“ nennen.


Bild: Die Studenten schweigen nicht. Ingenieurshochschule Teheran. Quelle: Weblog von Ali Schirasi
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Donnerstag, 2. Dezember 2010

IRAN: Um den „Satan in Schach zu halten“

Irans islamistische Führung drängt zu Polygamie und zeitlich befristeter Ehe, doch „die Kultur passt nicht“ zu diesen Ideen

von Birgit Cerha

Shahla Jahed, die Mittwoch wegen des Mordes an der Frau ihres ehemaligen Geliebten in Teheran exekutierte 40-jährige Iranerin ist nach Überzeugung des Chefs der Iranischen Menschenrechtsliga, Karim Lahidji, „Opfer von Lücken im Justizsystem“ in einer „frauenfeindlichen Gesellschaft“. Jahed hatte mit dem Ehemann der Ermordeten, einem bekannten Fußball-Profi, eine zeitlich befristete Ehe geführt. Ihr Fall wirft ein Schlaglicht auf uralte Praktiken im islamischen „Gottesstaat“, die die herrschenden radikalen Führer unter Berufung auf den Islam dem Volk verstärkt aufzuzwingen suchen, koste es was es wolle. So stellte jüngst der stellvertretende Außenminister Hassan Ghaschghavi klar: „Wir leben in einem islamischen Land und wir handeln nach den Regeln des Korans. Selbst wenn wir hunderttausend Menschen exekutieren müssen, werden wir mit der Durchsetzung dieser Regeln fortfahren.“
Mit einer mehrjährigen Unterbrechung Ende der 80er und 90er Jahre hat das islamische Regime intensiv das Volk zu früher Heirat und Fortpflanzung, sowohl innerhalb der Ehe, als auch in dem Arrangement der „Zeitehe“ gedrängt. Als das Bevölkerungswachstum jedoch in den 80er Jahren auf eine Rekordrate von mehr als 3,5 Prozent hinaufgeschnellt war, entschlossen sich die herrschenden Geistlichen zu einem eindrucksvollen, selbst von der UNESCO als Vorbild gelobtes Familienplanungs-Programm, das die Geburtenrate auf knapp über ein Prozent senkte – und dies dauerhaft bis heute. Doch inzwischen zeigen sich Irans radikale Führer von dieser Entwicklung mehr und mehr beunruhigt. So rief Präsident Ahmadinedschad vor wenigen Tagen die Mädchen des Landes auf, sich doch schon mit 16 zur Ehe zu entschließen, um „den Satan in Schach zu halten“. Er schloß sich damit den Appellen gleichgtesinnter Geistlicher an, die in der Frühehe die einzige Chance sehen, die Jugend „von Sünde und Versuchung“ fernzuhalten, aber auch Irans islamische Gesellschaft zu einem Bollwerk gegen die westlichen Feinde aufzubauen.

Nach dem Gesetz dürfen Mädchen ab 13 und Burschen ab 15 heiraten. Bei Zustimmung des Vaters oder väterlichen Großvaters ist eine frühere Verehelichung von Mädchen jedoch gestattet. So geschieht es immer wieder, insbesondere in ländlichen Regionen, das Väter Mädchen selbst im Alter von sieben oder acht Jahren verheiraten, um mit dem Brautgeld ihre Schulden zu bezahlen.

Doch im allgemeinen, insbesondere in den Städten ist in den vergangenen Jahren das Heiratsalter bei Frauen auf 22 bis 29 Jahre und bei Männern auf 27 bis 34 angestiegen. Ökonomische Gründe, der Wunsch auch bei Frauen, ein Studium zu vollenden und bei Männern darüber hinaus auch noch den zweijährigen Militärdienst abzuleisten, sind dafür verantwortlich. Und genau diese Entwicklung ist dem Regime und seinen Geistlichen ein Dorn im Auge. Deshalb versuchen sie immer intensiver uralte sexuelle Praktiken wiederzubeleben.

Nach iranischem Recht darf ein Mann – wie es der Islam vorsieht – eine Ehe mit vier Frauen führen, allerdings nur, wenn die erste Frau den weiteren Eheschließungen zustimmt. Versuche Erzkonservativer, diese Bestimmung zu lockern, scheiterten bisher im Parlament. Seit Jahren drängen iranische Führer die Männer des Landes auch zur „Zeitehe“. Doch der Erfolg bleibt weitgehend aus. Nach dieser auch im iranischen Recht verankerten, auf die Zeit Mohammeds zurückgehenden Praxis können Männer und Frauen vor einem Geistlichen eine Ehe von wenigen Stunden bis zu vielen Jahren eingehen. Die Frau erhält dafür eine vereinbarten Summe und der Mann ist zur finanziellen Sorge für Kinder aus dieser Ehe, die auch erbberechtigt sind, verpflichtet.

Mit der Empfehlung zur Polygamie, wie zur „Zeitehe“ suchen Irans Führer eine islamische Lösung für den Zeitvertreib der Jugend, der sie fast alle anderen Freuden und vor allem Freiheiten verbieten. Doch ihre Appelle stoßen weitgehend auf taube Ohren. Insbesondere die städtische Mittelschicht lehnt Vielweiberei entschieden ab und viele Iraner betrachten die „Zeitehe“ als nichts anderes als legitimierte Prostitution. Kein iranischer Vater wird seine Tochter in eine Ehe entlassen, die nur kurze Zeit währt. Jungfräulichkeit gilt auch im Iran, wie in anderen Ländern des Orients als „Ehre“ vor allem der Väter. Und jeder weiß, dass die „Zeitehe“ für die Frau das Tor zu Armut, Elend und Prostitution öffnet.

Zu der Frage, warum die Vielehe im Iran nicht so gut ankommt, wie in der arabischen Welt, meint der Geistliche und Politiker Mohammad Taqi Rahbar: „Die iranische Gesellschaft hat gezeigt, dass sie mit diesem Thema Probleme hat. Unsere Kultur passt nicht zur der Idee von Polygamie und Zeitehe.“

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Samstag, 27. November 2010

SAUDI-ARABIEN: Krise in Saudi-Arabiens Gerontokratie

Krankheit und Altersschwäche von König und Kronprinz machen die ungelöste Nachfolgefrage in einem der reichsten staaten der Welt akut

von Birgit Cerha

„Es schwelt keinerlei Konflikt über die Nachfolge: Es ist der König, dann der Kronprinz und dann Nayef (seit 1975 saudischer Innenminister)“, versucht Mustafa Alani vom Gulf Research Center in den Vereinigten Arabischen Emiraten Sorgen über mögliche Turbulenzen in Saudi-Arabien zu zerstreuen, nun, da nicht nur der 86-jährige Kronprinz Sultan schwer erkrankt ist, sondern auch König Abdullah. Der 87-jährige unterzieht sich nach einer – keineswegs lebensbedrohlichen, wie man offiziell betont – Operation an der Wirbelsäule in den USA noch intensiven medizinischen Tests. Nachdem Sultan bereits seit Jahren vermutlich an einem Krebsleiden laboriert, hatte der Monarch Nayef zum Stellvertretenden Premierminister ernannt, ein Posten, der als Sprungbrett auf den Königsthron gilt.

Abdullah, der 2005 die Macht im ölreichsten Staat der Welt übernommen hatte, zeigte in den vergangenen Monaten zudem deutliche Anzeichen von Altersschwäche. Seine engsten Berater, so heißt es, müssten regelmäßig seinen Texten klaren Sinn verleihen. Sultan gilt bereits als regierungsunfähig und der Aufstieg des 77-jährigen Hardliners Nayef an die Spitze des Königreiches ist keineswegs gesichert.
Ungeachtet äußerer Ruhe und Stabilität herrscht unter Kennern Saudi-Arabiens wenig Zweifel, dass hinter den Kulissen ein heftiger Konflikt um die Nachfolge tobt. Die Frage ist höchst kompliziert und von einem dichten Schleier des Geheimnisses umhüllt. Gerne erinnern Saudi-Arabien-Experten an ein altes Cliche: „Jene, die wissen, was sich in der Königsfamilie ereignet, sprechen nicht, jene, die sprechen, wissen nichts.“

Das Königreich gleicht einem in altmodischer Weise geführten Familienunternehmen. Der König ist nicht nur Premierminister, er ernennt die Parlamentsmitglieder und bestimmt seinen Nachfolger. Bis heute ging die Nachfolge strikt auf die Söhne des 1953 verstorbenen Gründers Abdul Aziz Ibn Saud (vermutlich um die 30 an der Zahl) über. 19 sind heute noch am Leben. Nur vier von ihnen kämen jedoch aufgrund ihres Gesundheitszustandes und ihrer Position für das höchste Staatsamt infrage. Dies bedeutet, dass die Enkel des Gründervaters mehr und mehr die Hierarchie der Monarchie dominieren. Und da auch Abdul Aziz’ Söhne mehrere Frauen und unzählige Kinder haben, hat sich die Zahl der nach Macht strebenden Prinzen dramatisch erweitert und damit die Nachfolgefrage entscheidend kompliziert. Die Schlüsselfrage dabei ist, welcher Familienzweig gibt den Ton an?

Die zweite Generation der al-Sauds konnte dem Königreich eine erstaunliche Stabilität bescheren, weil die drei Hauptclans der Familie einander kontrollieren: Der Faisal-Clan, genannt nach Abdul Aziz’ Nachfolger König Saud; die Abdullah-Fraktion des gegenwärtigen Königs und der Sudairi Clan, genannt nach Abdul Aziz’ achter Frau. Sultan ist dessen ältestes Mitglied, Nyaef und Salman, der Gouverneur von Riad und Favorit unter westlichen Diplomaten für die Nachfolge, sind seine Vollbrüder. Jahrelang hatten die Sudairis ihre Fäden gezogen, um Abdullah vom Königsthron fernzuhalten. Vergeblich. Dennoch einigte man sich im kritischen Moment immer auf einen Kompromiß undiese byzantinische Machtregelung hat bisher Hunderte potentiell machtgierige Prinzen in Schach gehalten.

Tief besorgt, dass dies in der nächsten Generation nicht mehr möglich sein könnte, hat Abdullah 2006 einen Familienrat, „Loyalitätskommission“ genannt, bestellt, dem alle noch lebenden Söhne Abdul Aziz, 13 Enkel und je einem vom König ausgewöhnten Sohn des Königs und des Kronprinzen angehören. Diese Regelung könnte Abdullah aber durch die Ernennung Nayefs zum stellvertretenden Premier selbst untergraben haben. Das zumindest befürchtet etwa Prinz Talal, ebenfalls einer der Söhne Abdul Aziz aus dem Sudairi-Clan, der – im Gegensatz zu Sultan – zum progressiven Zweig der Sauds zählt.

Zudem hat der Monarch, um die Position seiner Familie im Machtgefüge zu stärken, jüngst seinen Sohn Mitab zum Oberkommandierenden der 100,000 Mann starken Saudischen Nationalgarde, der schlagkräftigsten militärischen Kraft im Königreich ernannt, was zu Rivalitäten mit anderen Zweigen der Familie führt.

Dank riesiger, von ihnen kontrollierter Medienunternehmen, gelang es den Sauds bis heute, ihre internen Konflikte vor der Öffentlichkeit weitgehend zu verbergen. Ihren teilweise hochgebildeten Bürger bleibt vorerst nur das Internet, um ihrer Sehnsucht nach einem Ende der Entmündigung, nach Mitbestimmung, nicht nach dem Sturz des Königshauses, aber nach einer konstitutionellen Monarchie Luft zu machen.

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AFGHANISTAN: Der Wahrnehmungskrieg in Afghanistan

von Dr. Arnold Hottinger

Assymetrische Kriege, wie jener, der heute in Afghanistan und in Pakistan geführt wird, sind Kriege der Wahrnehmung. Es gibt keine Entscheidungsschlachten. Die unzähligen und immer andauernden Kleinaktionen, Überfälle, Anschläge, Terroraktionen, Bedrohungen und Erpressungen, aus denen ein solcher Krieg besteht, sollen dazu dienen, die Wahrnehmung der Bevölkerung dahin zu beeinflussen, dass sie zu erkennen glaubt, weder sie selbst sei in der Lage, sich wirksam zu verteidigen noch irgendwelche Schutzmächte, die ihr zu helfen oder mindestens geregelte Verhältnisse zu schaffen vorgeben, vermöchten dies. Auch die Wahrnehmung der Schutzmacht selbst muss in diesem Sinne beeinflusst werden, wenn die Seite des "Widerstandes" das Kräftemessen gewinnen soll.

Doch auch auf der Gegenseite der "Ordnungsmacht" spielt die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle. Denn auch die Ordnungsmacht wird von einer Bevölkerung getragen. Wenn diese ihr den Rückhalt entzieht, verliert sie den Krieg. Weshalb die Ordnungsmacht alles tut, was sie vermag, um sich Vertrauen und Zuversicht ihrer eigenen Bevölkerung, und auch der ihrem Schutz unterstellten, zu bewahren. Das bedeutet, die Ordnungsmacht führt einen doppelten Meinungskampf: die Zuversicht der eigenen Bevölkerung muss erhalten bleiben und jene der beschützten Bevölkerung muss bewahrt oder wiedergewonnen werden.

Ein prominentes Opfer dieses Wahrnehmungskrieges ist die faktische Lage des realen Kräfteverhältnisses, weil beide Seiten auf Gedeih und Verderb die Wahrnehmung zu beherrschen suchen, bestimmt die Scheinlage den Verlauf und Ausgang des Krieges, nicht die tatsächlich vorhanden Kräfte. Mit anderen Worten, was auf beiden Seiten geglaubt wird, erweist sich als kriegsentscheidend, nicht was auf beiden Seiten an Kräften wirklich vorhanden ist. Operativ heisst das nichts anders, als dass beide Seiten dazu verdammt sind, nach Kräften zu lügen. Ob sich eine Propagandalüge als wirksame Kriegswaffe erweist oder nicht, hängt nicht vom Wahrheitsgehalt solcher Lügen ab, sondern davon ob sie geglaubt werden oder nicht.

Aussagen um der Wahrnehmung willen

Man muss diese Sachlage berücksichtigen, wenn man die an die Aussenwelt gerichteten Aussagen der Kriegsführenden zur Kenntnis nimmt. Sie haben stets einen Zweck; nämlich die Wahrnehmungen der Aussenwelt zu beeinflussen und nicht die faktische Lage zu schildern. Mit einer durch diese Tatsachen gegebenen Brille hat man alle Kriegsberichte und Kampfdarstellungen zu lesen, die der Ordnungsmacht so gut wie die der Rebellen. So zum Beispiel der in sehr objektiv erscheinenden Darstellungen gehaltene, durchaus "sachlich" wirkende, beinahe 100 seitige Bericht, den jüngst das Pentagon dem amerikanischen Kongress vorlegte. Er spricht von "langsamen Fortschritten" in entscheidenden Kriegsbereichen, wie etwa der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, oder der Ausdehnung "von Rebellen gereinigter Zonen". Und er räumt ein, dass der Widerstand sich als sehr zäh erweise, so dass weder eine Schwäche der Führung noch ein Zerbrechen der Befehls- und Kontrollketten feststellbar sei.

Solche Einschränkungen und Warnungen sind zur Erhaltung der Glaubwürdigkeit des Berichtes notwendig. Sie dienen auch dazu, klar zu machen, dass der Krieg nach Ansicht des Pentagons noch lange andauern dürfte und deshalb Entschlossenheit und Durchhaltewillen beim amerikanischen Volke und seinen politischen Führern, sowie Zuversicht bei den "beschützten" Afghanen, weiter notwenig seien. Doch man sollte nicht glauben, dass Begriffe wie "langsamer Fortschritt" notwendigerweise ein Vorankommen widerspiegeln, es könnte sich auch um Stagnation oder Rückschritte handeln. Die angesprochene "Zähe" des Widerstandes kann auch bedeuten, dass der Widerstand zunimmt. Wie aus den seit dem Vorjahr stark angewachsenen Zahlen der Zwischenfälle und Todesopfer eher hervorgeht.

Kontraproduktive Aktionen der Ordnungskräfte

Natürlich hält sich auch die Gegenseite der Taleban und ihrer paschtunischen Mitkämpfer nicht an die Fakten. Auch ihr geht es um Eindrücke. Da sie die bestehenden Ordnungsstrukturen zerstören, nicht wie die Gegenseite bewahren und aufbauen wollen, dient "Furcht und Schrecken" ihren Zwecken. Die "Wahrnehmung", die sie ausdehnen wollen, kann durch Gewaltmassnahmen aller Art, durchaus auch Schandtaten verbrecherischen Charakters, gefördert werden, denn sie besteht aus der Botschaft:"wir können jederzeit den Aufbau und die Festigung von allen Ordnungsstrukturen verhindern und diese weiter zerstören, und wir werden dies solange tun, bis wir an die Macht gelangen!"

Man muss sehen, dass auch die Ordnungskräfte stets in Gefahr schweben, die Wahrnehmungen, welche ihre Feinde ausbreiten wollen, ihrerseits ebenfalls zu fördern. Sie tun dies in dem Augenblick, in dem ihre Bekämpfung "der Rebellen" ihrerseits in Zerstörung geordneter Verhältnisse einmündet - genauer gesagt, in der Sicht der betroffenen Bevölkerung einzumünden erscheint. Dies geschieht oft und immer häufiger, je mehr die Ordnungstruppen zu schweren Waffen "der Abwehr" greifen. Jüngst wurde gemeldet, dass die Amerikaner zum ersten Mal schwere Panzer einsetzen, und die Beschreibungen der Kriegskorrespondenten machen klar, dass diese dazu dienen, feindliche Ziele aus grosser Distanz zu pulverisieren. Wie zuvor schon der Einsatz von Drohnen und Raketen sowie der aller Art Kriegsflugzeuge bedeutet dies einen weiteren Schritt der notgedrungen wenig diskriminierenden Zerstörung. Neben möglicherweise getroffenen Widerstandskämpfern werden mit Sicherheit zivile Afghanen, besonders Frauen und Kinder, sowie alte Leute, getroffen und ihre Wohnstätten pulverisiert.

Der Einsatz von schweren Waffen durch die Amerikaner bewirkt das gleiche bei der afghanischen Bevölkerung, was die Terrortaten der Taleban bezwecken; er verstärkt die Wahrnehmung, dass alle Lebensgrundlagen für die Afghanen solange immer weiter zerstört werden, bis der Krieg nur zu Ende geht, die Amerikaner das Land verlassen und die Taleban die Macht ergreifen.

Zerstörung gegen Aufbau

Auch ohne solche selbstzerostörerische Schritte der "Ordnungsmächte" sind die Taleban dadurch im Vorteil, dass sie die Bevölkerung bedrohen und ihrer Drohungen wahr machen können und dass sie dadurch jene Wahrnehmung, die zu ihren Gunsten wirkt, fördern. Die Ordnungskräfte ihrerseits müssen versprechen statt zu drohen, nämlich versprechen, sie würden Befriedung und Sicherheit ausdehnen, sowie "Entwicklung" , das heisst ein besseres Leben für die Bevölkerung, fördern. Wenn sie diese Versprechen nicht einhalten können, weil ihre Gegner das verhindern, leidet ihre Glaubwürdigkeit, und dadurch spielen sie auch wieder den Aufständischen in die Hände.
Die allen Afghanen bekannte und weithin sichtbare Korruption der Karzai Regierung fördert ebenfalls jene Wahrnehmungen, welche die Taleban ausbreiten wollen. Nämlich dass seine Seite mit Unterstützung der Amerikaner eine Art von Ordnung hervorzubringen verspricht, wie sie die Afghanen auf keinen Fall wünschen.

Gesamthaft gesehen ist klar: alle für die Bevölkerung negativen Entwicklungen nützen den Rebellen, sowohl wenn die Rebellen sie selbst hervorbringen wie auch - sogar noch mehr - wenn sie auf die Regierung und ihre fremden Beschützer zurückgehen, Dies sind Realitäten, die man erkennen muss, wenn man die Darstellungen, welche die Ordnungsmächte vom Geschehen in Afghanistan darbieten, richtig einschätzen will.

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Freitag, 26. November 2010

ÄGYPTEN: Tomaten, Knüppel und Banknoten

Warum Ägyptens Regime durch massive Repression und Bestechung den Ausgang der Parlamentswahlen zu garantieren hofft

von Birgit Cerha

Billige Tomaten, in Posters von Kandidaten der regierenden „Nationalen Demokratischen Partei“ (NDP) eingewickelt, machen, auf Lkw beladen, ihren Einzug in die Slums von Kairo. In Ägypten eskaliert die Spannung vor den Parlamentswahlen am 28. November. Die NDP, die das Land beherrschende Partei Präsident Mubaraks, nimmt die Masse der Armen aufs Korn. Bei einer 22-prozentigen Inflation im Sektor der Nahrungsmittel, die den Preis für ein Kilo Tomaten auf 2,8 Dollar pro kg hinaufjagte und die Armen in immer tiefer Verzweiflung treibt, schenkt die NDP nun den sozialen Nöten so vieler betont Aufmerksamkeit. Selbst Präsident Mubarak gestand mit Blick auf dieses starke Wählerpotential, dass die Früchte der wirtschaftlichen Liberalisierung keineswegs alle Ägypter erreicht hätten. Und in seinem Auftrag präsentiert sich die Partei nun als Anwalt der Armen.

Wiewohl die Wirtschaft mit einem siebenprozentigen – und selbst in Zeiten der Weltwirtschaftskrise vier- bis fünfprozentigen – Wachstum rasanten Aufschwung erlebte,, konnten nicht die so dringend nötigen hunderttausenden Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. 40 Prozent der Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze von zwei Dollar im Tag.

Doch werden die Armen der Partei Mubaraks, der ihnen in drei Jahrzehnten keine Hoffnung schenkte, diesmal ihre Stimme geben? Welche Bedeutung besitzt ihre politische Meinung denn überhaupt? Diese Frage stellen sich viele diesmal besonders, da das Regime alles unternimmt, um seine unumschränkte Macht abzusichern und zu zementieren. Das alles freilich – mit Blick auf den Westen - unter dem Deckmäntelchen der „Demokratie“

Deshalb auch sind 42 Millionen wahlberechtigte Ägypter am Sonntag zu einer demokratischen Übung aufgerufen, die von wahrer Demokratie weit entfernt ist. Traditionell liegt die Wahlbeteiligung am Nil angesichts des so geringen Vertrauens in die wahren demokratischen Absichten des Regimes, bei kaum 25 Prozent. Diesmal könnte es noch weit schlechter ausfallen. Denn noch nie zuvor seit der Machtübernahe Mubaraks 1981 versuchte der Herrscher, einen Wahlausgang durch derart massive Repression Andersdenkender, sowie der Zivilgesellschaft zu garantieren.

Insgesamt hofft eine Rekordzahl von 5.725 Personen, darunter 297 Frauen (für die 64 Sitze reserviert sind) und 80 Kopten in die Nationalversammlung einzuziehen. Die NDP hat 800 Bewerber aufgestellt, die liberale Wafd-Partei 250 und die stärkste, weitaus am besten organisierte, offiziell verbotene, doch tolerierte „Moslembruderschaft“ 135. Diese Bewerber allerdings dürfen – wie bei den letzten Parlamentswahlen 2005 – nur als „Unabhängige“ auftreten. Damals hatten sie allerdings mehr als ein Fünftel der Parlamentssitze erobert. Dies wird ihnen diesmal nicht gelingen. Denn das Regime hat nach einer jahrelangen systematischen Repression gegen seine gefährlichste Opposition nun die Schrauben noch fester zugegezogen. Mehr als tausend Moslembrüder wurden im Vorfeld der Wahlen verhaftet, Kundgebungen von der Polizei gesprengt, Aktivisten mit Knüppeln niedergeschlagen, während NDP-Vertreter gleichzeitig mit Hilfe von Banknotenbündeln Zulauf zu ihrer Partei zu sichern suchen. Die Massenmedien werden geknebelt wie noch nie und die Zivilgesellschaft massiv eingeschüchtert.

Während die Moslembrüder empfindlich geschwächt sind, boykottieren andere Oppositionsparteien, wie die „Nationale Vereinigung für Veränderung“ des heimgekehrten Chefs der Atomenergiebehörde und potentiellen Bewerber um die ägyptische Präsidentschaft, Mohammed el-Baradei, oder die Al-Ghad-Partei Ayman Nours, der bei den Präsidentschaftswahlen 2005 Mubarak herausgefordert hatte, die Wahlen mit dem Argument, sie wollten solch politischer Manipulation keine Legitimität verleihen. Die alte Opposition, wie die Wafd, die linke Tagammu oder die Nasseristen, die ohnedies schon lange jede Überzeugungskraft in der Bevölkerung verloren hat, nimmt zwar an den Wahlen teil, ist aber wegen dieses Schrittes intern zerrissen.

Entschieden hat sich das Regime US-Druck widersetzt, ausländische Wahlbeobachter zuzulassen. Dass auch diesmal, wie vor fünf Jahren, Wähler sogar gewalttätig vor den Wahllokalen „zur richtigen Wahl“ gedrängt werden, ist anzunehmen. Wiewohl kein Zweifel am Ausgang des Wahlausgangs besteht, besitzt diese Farce dennoch Bedeutung. Denn sie soll den Weg für einen komplikationslosen Prozeß zur Übergang der Macht vom alterkränklichen Mubarak auf seinen – bis heute ungeklärten – Nachfolger ebnen. In einem Jahr endet Mubaraks fünfte Amtszeit. Ob der Rais erneut kandidiert bleibt Spekulation. Zu vermuten ist, dass er das Ende einer sechsten Amtszeit nicht mehr erlebt, da er dann über 90 wäre. All diese Ungewissheiten heizen am Nil die Spannungen beunruhigend auf.

Bildquelle: Reuters

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Donnerstag, 25. November 2010

TERROR: Die Elite in Bin Ladens Terrornetzwerk

Usbekische Jihadis erfüllen besondere Aufgaben – Sie versuchen verstärkt auch Türken in die die Al-Kaida zu ziehen und umwerben besonders deutsche Extremisten

von Birgit Cerha

In Waziristan, dem heißumkämpften pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, wird das Dasein immer ungemütlicher. Verschärfte Attacken der USA und ihrer NATO-Verbündeten, sowie der pakistanischen Luftwaffe haben der dort verschanzten Al-Kaida Führung und deren radikalen Gesinnungsgenossen, darunter auch einigen Deutschen, offenbar quälende Existenzängste eingejagt. Dass zumindest einige von ihnen wieder heimkehren wollen, machte unterdessen in den Medien die Runde. Zu welchem Zweck sie kommen wollen, bleibt Spekulation.

Umworben werden deutsche Islamisten aber offenbar seit einiger Zeit insbesondere von usbekischen Jihadi-Gruppen. In einem über Internet verbreiteten Video forderte die „Islamische Bewegung Usbekistans“ (IBU) zuletzt Anfang Oktober deutsche Muslime eindringlich zum „heiligen Krieg“auf. Teil einer Angstkampagne?An die 200 deutsche Staatsbürger wurden nach Aussagen deutscher Behörden seit Anfang der 90er Jahre in Terrorcamps in Pakistan ausgebildet, vermutlich meist von usbekischen Kämpfern. Der Verbleib von vielen von ihnen und die wahren Zahlen bleiben im dunkeln.

Welche Rolle spielen die Usbeken in dem von dem Saudi jemenitischer Herkunft, Osama bin Laden, gegründeten Al-Kaida Terrornetz?

Neben der IBU nennen manche westliche Geheimdienstkreise noch eine zweite mit Taliban und Al-Kaida liierte usbekische Terrororganisation: die „Islamische Jihad Union“ (IJU) Doch widersprüchliche und verwirrende Informationen konnten bisher ernste Zweifel an ihrer wahren Existenz nicht zerstreuen. IJU wurde von den deutschen Behörden mit der „Sauerland-Gruppe“ in Verbindung gebracht (Terroristen, die 2007 angeblich Anschläge auf Flughäfen und US-Einrichtungen in Deutschland geplant hatten und in ihrem Versteck in Schlehdorn festgenommen wurden). Bei ihrem Prozeß im Führjahr 2010 sagten sie jedoch aus, noch nie etwas von IJU gehört zu haben. Einige Experten halten IJU für eine Interneterfindung und nach Hinweisen eines nach London geflüchteten usbekischen Geheimdienstoffiziers, sowie einer usbekischen Journalistin wurde IJU vom usbekischen Diktator Islam Karimov aus innen- und außenpolitischen Zweckmäßigkeiten gegründet – eine Behauptung, die der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan, Craig Murray, für wahrscheinlich hält und dies auch ausführlich in einem Buch, „Murder in Samarkand“, begründet.

Welche Rolle der enge Verbündete der Amerikaner und Deutschen im Anti-Terrorkrieg Karimov in dieser zwielichtigen Welt von Machtmissbrauch, Korruption, Drogen und Terror auch spielen mag, an der Existenz von IBU besteht kein Zweifel. Ihre Ursprünge reichen zurück in die frühen 1990er Jahre zurück, als auch in dem einst sowjetischen Zentralasien das Interesse am Islam zu neuem Leben erwachte und die staatliche Kontrolle zusammenbrach. In der Provinz Namangan bildeten sich kleine informelle islamische Gruppen aus jungen, in Kampftechniken erprobten Männern, die versuchten, das Sicherheitsvakuum zu füllen. Unter ihnen war die „Adolat“, von dem 24-jährigen Imam Tahir Yuldaschew und dem 22-jährigen Afghanistan-Veteran der Sowjetarmee, Juma Namangoni gegründet. Beide stammten aus dem usbekischen Ferganatal (siehe Lexikon). „Adolat“ setzte sich den Sturz des Regimes Karimow und die Gründung eines islamischen Staates in Usbekistan zum Ziel. Sie besetzte 1991 die Provinzhauptstadt Namangan und versuchte, der Bevölkerung puritanische islamische Lebensregeln aufzuzwingen..

Karimow gelang es mit seinen Streitkräften schließlich, die Bewegung niederzuschlagen. Namangoni und Yuldaschew flüchteten mit ihren Kämpfern ins benachbarte Tadschikistan und schlossen sich den dortigen usbekischen Gruppen im tobenden Bürgerkrieg gegen die Tadschiken an. Von einem 1996 geschlossenen Waffenstillstand wollten die beiden nichts wissen, setzten sich mit ihren Anhängern nach Afghanistan ab und knüpfte Kontakte zu Bin Laden. Mit dessen Unterstützung riefen sie die IBU ins Leben, um von Afghanistan aus weiter gewaltsam ihr Ziel eines islamischen Staates in Usbekistan zu verfolgen Für dieses Vorhaben fanden sie nicht nur tatkräftige und auch finanzielle Hilfe bei Bin Laden, den mit ihm verbündeten Taliban und dem pakistanischen Geheimdienst, sondern auch aus saudischen Quellen, darunter Geheimdienst-Chef Prinz Turki al Faisal persönlich.

Nachdem die Taliban Ende September 1996 die afghanische Hauptstadt Kabul erobert hatten, konnte IBU im Ferganatal aktiv werden, einer Region, in der der islamische Traditionalismus besonders stark ausgeprägt ist. Sie fand in Kooperation mit Al-Kaida im afghanischen Mazar-i Sharif und Kunduz ein sicheres Hinterland und ungehinderten Zugang zu Tadschikistan. Die Taliban sollen bis zu 3000 Kämpfern der IBU, darunter auch Tschetschenen und Uiguren (siehe Lexikon), Zuflucht gewährt haben. Namangoni und Yuldaschew gelang es, mit ihren islamistischen Verheißungen Scharen von bitterarmen, orientierungslosen und von massiver staatlicher Repression gequälten Jugendlichen aus dem Ferganatal anzuziehen.

Karimov machte 1999 IBU für eine Serie von Explosionen und einen Attentatsversuch auf ihn verantwortlich, eine Behauptung, die nie bewiesen wurde, ihn aber den Vorwand bot, die Schraube der Repression, insbesondere im sozial brodelnden Ferganatal, noch schärfer zuzuziehen. Kosten für Training und Waffen finanzierte Namangoni durch eine Serie von Geiselnahmen für Lösegelderpressungen auch im südlichen Kirgistan und vor allem durch intensiven Drogenhandel. Nachdem seine Kämpfer 2000 eine Gruppe amerikanischer Alpinisten entführt hatte, setzte Washington die IBU auf die Liste ausländischer Terrororganisationen.

IBU, Al-Kaida und Taliban rückten immer näher aneinander. Während die Taliban den erprobten Krieger Namangoni zu ihrem stellvertretenden Verteidigungsminister ernannten, nahm Bin Laden Yuldaschew in seinen engsten Führungskreis auf und Aussagen des usbekischen Imams ließen erkennen, dass er im voraus von den Terrorakten des 11. Septembers in den USA gewusst haben dürfte.

In dem darauffolgenden Krieg der USA wurde die auf der Seite der Taliban kämpfende IBU stark dezimiert und Namangoni getötet. Yuldaschew übernahm die Führung und die Organisation verlegte ihre Stützpunkte und Trainingslager nach Waziristan. Von dort aus verübten sie wiederholt auch Anschläge in Pakistan und vor allem gegen die in Afghanistan kämpfenden NATO-Truppen. Neben dem Sturz der pakistanischen und usbekischen Regimes, der Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan sind IBUs Ziele, wie jene der Al-Kaida vage.“Ihr Hauptinteresse ist die Durchsetzung der Scharia“, analysiert der pakistanische Journalist Ahmed Rashid. Es ginge ihnen nicht darum, eine „gerechte Gesellschaft“ herzustellen, „sondern sie sehen in der Scharia bloß eine Mittel“, den Menschen persönliche Lebensregeln aufzuzwingen – „eine Vorstellung, die jahrhundertealte Traditionen, die Kultur, Geschichte, ja die Religion des Islams selbst verfälscht“. Wie Al-Kaida sehen sich die IBU-Kämpfer als „Fußsoldaten in einem globalen Jihad und können sich heute auf finanzielle Hilfe von Gönnern aus der gesamten islamischen Welt stützen. Dies ermöglicht ihnen, ihre Mitglieder mit modernen Waffen auszustatten.


In den vergangenen Jahren bekundete Yuldaschew auch wiederholt die Absicht, sich stärker der großen usbekischen Minderheit in Süd-Kasachstan und der uigurischen Gemeinde West-Chinas (siehe Lexikon) anzunehmen. Die uigurische Sprache ist der usbekischen nahe und beide Völker bekennen sich zur Hanafi (siehe Lexikon) Richtung des sunnitischen Islam und pflegen sufistische Traditionen. Als Ziel wird jüngst auch die Errichtung eines islamischen Kaliphats in Turkistan genannt, einem Gebiet, das sich vom Kaspischen Meer bis zur chinesischen Xinjiang-Provinz erstreckt und die zentralasiatischen Staaten miteinschließt.

Für die Al-Kaida, wie für die Taliban ist die IBU ein höchst wichtiger Bündnispartner, der ihnen in ihrem Krieg gegen das Regime Karsai und die NATO-Truppen militärisch-beratend zur Seite steht. Usbekischen Kämpfern haftet seit langem der Ruf grausamer Härte an und sie sind berüchtigt für ihren Fanatismus, zeichnen sich aber auch durch große Disziplin aus. Taliban und Al-Kaida schätzen sie als Elite-Training-Kader, denen sie häufig die Ausbildung junger Jihadis, insbesondere auch aus Europa überlassen, nicht zuletzt, weil sie meist motivierter und erfahrener sind als ihre Gesinnungsgenossen der Taliban und Al-Kaida. Nach Einschätzung von Terrorexperten lässt sich ihr Einfluss in weiten Gebieten Süd-Afghanistans erkennen..

Angehörige der US-Spezialeinheiten rühmten jüngst gar auch ihre taktischen Fähigkeiten, die weit über jenen der durchschnittlichen Taliban-Soldaten lägen und diese Usbeken zu besonders gefährlichen Gegnern mache. In der direkten Konfrontation mit Koalitions-Truppen übernähmen sie meist eine Beratungs- und Befehlsfunktion und verstünden es, die ihnen unterstellten Kämpfer zu inspirieren und ihnen damit eine weit effizientere militärische Schlagkraft zu verleihen.

Nach Aussagen westlicher Geheimdienstkreise hat IBU jüngst in Nord-Afghanistan stark an Boden gewonnen, in Gebieten, in denen sich in den vergangenen zwei Jahren der Aufstand neu belebt hat. Gemeinsam mit Taliban-Kämpfern attackieren die Usbeken einen neuen Nachschub-Korridor der NATO, der von Tadschikistan durch die Nord-Provinzen von Kunduz und Baghlan führt und kontrollieren dort bereits zahlreiche Gebiete.

Verlässliche Schätzungen über die Zahl der IBU-Jihadis gibt es nicht. Es könnten mehr als 4.000 Mann sein Doch IBU erlitt immer wieder schwer militärische Rückschläge. Fast ein Jahr lang war die Organisation führerlos. Erst im August gab die Gruppe in ihrer Website „Furqon“ bekannt, dass Yuldaschew am 27. August 2009 bei einem amerikanischen Militärschlag in Süd-Waziristan ums Leben gekommen war. Als neuer IBU-Chef wurde Yuldaschews Stellvertreter, Abu Usman Adil genannt. Experten halten diesen jungen Führer für weit aggressiver und expansiver als den verstorbenen Imam, der sich in den vergangenen Jahren weitgehend Terroraktionen in Afghanistan und Pakistan zur Unterstützung der Taliban und Al-Kaida begnügt hatte.

Doch auch Yuldaschew stellte in einer seiner letzten Videobotschaften klar: „unser Ziel ist nicht nur die Eroberung Afghanistans und Usbekistans, sondern der ganzen Welt….. . Wir führen einen Jihad und für uns gibt es keine Grenzen.“ Ein Auftrag, ganz im Sinne Bin Ladens. Die Al-Kaida schätzt aber ihre Usbeken aber nicht nur wegen ihrer militärischen Kapazitäten. IBU soll dem bis heute von Arabern dominierten Terror-Netzwerk zu größerer Internationalität verhelfen. Türken fehlen auffallend in ihren Reihen. Türkeitürken und Usbeken sind miteinander verwandte Turkvölker, die ähnliche Sprachen sprechen. So soll IBU, in deren Reihen auch Tschtschenen und Uiguren kämpfen nun auch verstärkt Türken aus der Türkei – und vorzugsweise – türkstämmige Deutsche - anlocken, um den globalen Charakter der Al-Kaida zu stärken und ihr zu größerer Schlagkraft in Europa zu verhelfen.

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LEXIKON: Die Uiguren

von Birgit Cerha


Die Uiguren, ein altes Turkvolk, sind die Ureinwohner Ostturkestans, heute die autonome, westchinesische Region Xinjiang, ein Gebiet von der Größe Westeuropas. Hier leben laut offiziellen chinesischen Angaben ca. acht Millionen Uiguren, weitere 500.000 leben in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Usbekistan, Krigistan, Tadschikistan und Turkmenistan und fast 50.000 im Vorderen Orient, in Europa und in den USA.

Die Uiguren spielten durch den Aufbau unabhängiger Staaten zwischen 745 und 1944 auch eine wichtige Rolle im politischen, kulturellen und sozialen Leben Zentralasiens. Entlang der Seidenstraße beheimatet profitierten sie über Jahrhunderte vom kommerziellen, kulturellen und religiösen Austausch der Völker. Alle Turkvölker betrachten diese Hochkultur als ihr klassisches Erbe, zu dem auch die einzigartige friedliche Verschmelzung zwischen religiösen Strömungen des frühen Buddhismus, des persischen Zoroastrismus, des Christentums und des Islams zählt.
Wiewohl die Welt der Uiguren im Westebis heute weitgehend unbekannt blieb, stieß ihr hoher kultureller Stand doch bei einigen Gelehrten auf große Bewunderung. So stellte etwa Ferdinand de Sassure fest: „Es waren die Uiguren, die in Zentralasien die Kultur in Wort und Schrift bewahrten.

Die uigurische Kultur erfuhr einen rapiden Niedergang nach der Besetzung Ostturkestans durch die chinesische Mandschu-Dynastie 1876. 1884 wurde Ostturkestan offiziell dem Mandschu-Reich eingegliedert und erhielt den Namen Xinjiang. Zu dieser Zeit begann eines systematische Assimilierung durch die Chinesen, die sich insbesondere gegen die Kultur und die islamische Religion der Uiguren richtete. Diese Politik hält bis heute an und wird noch verschärft durch eine systematische Ansiedlung von Han-Chinesen im uigurischen Kernland. Das Gebiet gleicht seit langem einem Pulverfaß. Demonstrationen, Aufstände, Repressionen und Hinrichtungen lösen einander ab. Religionsausübung wird laut Amnesty International sabotiert, die Moscheen werden willkürlich geschlossen, religiöse Feste verboten, die Sprache der Uiguren ist aus Schulen verbannt. Nach Einschätzung der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ in Göttingen etwa „gibt es keine andere ethnische Gruppe in China, die so stark einer Verfolgung ausgesetzt ist“.

Die Repression hat vor allem wirtschaftliche Motive. Xinjiang ist Chinas wichtigstes Erdöl- und Erdgaszentrum und zudem von territorial-strategischer Bedeutung. Die Provinz grenzt an die unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgistan, Turkmenistan und Kasachstan, in denen ebenfalls Turkvölker leben und Peking befürchtet, auch die Uiguren würden eines Tages nach Unabhängigkeit streben.

Das Schicksal der Uiguren wird – im Gegensatz zu jenem der Tibeter – in Europa fast völlig ignoriert.

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LEXIKON: Fergana Tal

von Birgit Cerha

Die Bewohner der Region nannten es einst das „Goldene Tal“ wegen seiner außergewöhnlichen Pflanzenwelt und dem Reichtum an Bodenschätzen, wie u.a. Gold, Öl und Kupfer. Seit langem ist es die strategisch wichtigste und dichtest besiedelte Region Zentralasiens. Nirgendwo sonst in der Region erreichen wirtschaftliche Tätigkeiten und die Landwirtschaft eine derart hohe Produktivität.

Und dennoch zählt das Ferganatal zu einer potentiell explosivsten Krisenregion Zentralasiens. Eine der Ursachen dafür hatte einst der sowjetische Diktator Stalin geschaffen, als er dieses reiche Tal auf drei Länder – Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan – aufteilte, um sicherzustellen, dass nicht ein Machthaber diese Region beherrscht und damit dem russischen Kernland zur Gefahr werden könnte. Stalin berücksichtigte bei seiner Grenzziehung nicht die ethnische Verteilung der lokalen Bevölkerung und säte somit die Saat ethnischer Konflikte und gewalttätiger Auseinandersetzungen um Gebietsansprüche.

In dem 350 km langen und etwa 100 km breuten Ferganatal leben etwa 15 Millionen Menschen, die meisten sind ethnische Usbeken. Im kirgisischen Teil des Tals stellen die Usbeken etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung. Usbekistan kontrolliert rund 60 Prozent des Tals, das entspricht 4,3 Prozent seines Staatsgebietes, Tadschikistan 25 Prozent oder 18,2 Prozent seines Staatsgebietes und Kirgistan 15 Prozent oder 42 Prozent seines Staatesgebietes.

Ungeachtet der reichen Bodenschätzen und des fruchtbaren Landes, brodeln im Ferganatal die sozialen Spannungen. Jeder zweite der etwa 15 Millionen Bewohner ist unter 18 Jahre alt. Insbesondere im usbekischen Teil quälen die etwa acht Millionen Bewohner Arbeitslosigkeit und Massenarmut. Viele treibt es deshalb zu Drogenhandel und Kriminalität. Ein unüberschaubares Berggebiet, die kaum kontrollierbaren Grenzen und die Bestechlichkeit der Polizei und Grenzposten erleichtern den Drogenhandel aus Afghanistan. Das Ferganatal besitzt für die Drogenmafia und organisierte Kriminalität große strategische Bedeutung, da hier die wichtigsten Verbindungswege zwischen Nord-Tadschikistan, dem Nordosten Usbekistans und Süd-Kirgistan liegen. Ein wichtiger Teil der Drogen aus Afghanistan wird über diese Route bis nach Westeuropa transportiert.

Im Ferganatal ist traditionell der Islam tiefer verwurzelt, als in anderen Gebieten Zentralasiens. Selbst die Sowjetmacht konnte hier seiner nicht Herr werden. Deshalb sprangen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerade hier als erstes radikale Islamistenorganisationen aus dem Boden. Militanten Gruppen bieten die das Tal einschließende Bergwelt ideale Rückzugsgebiete, von denen aus sie den Regimes der drei das Tal kontrollierenden Staaten beträchtliche Sicherheitsprobleme bereiten können.

Die geostrategische Bedeutung des Ferganatals ist nicht zu unterschätzen. Es erstreckt sich zwischen Russland im Norden und China im Osten und im Süden zieht sich die geopolitische Bruchlinie Afghanistan, wo die USA und die NATO einen verlustreichen Krieg führen.

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LEXIKON: Hanafi Islam

von Birgit Cerha

Die Hanafi Schule ist die älteste der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam und die liberalste zugleich. Sie wird nach ihrem Gründer, Abu Hanifa ibn Thabit benannt, der um etwa 700 in Kufa, im heutigen Irak, geboren wurde. Er zählte zu den frühesten muslimischen Gelehrten, die versuchten, neue Wege der Interpretation islamischer Lebensregeln einzuschlagen. Zu Lebzeiten wurde Abu Hanifa deshalb missachtet, als ignorant, Erfinder neuer Glaubenssätze und gar als Ungläubiger (kafir) beschimpft. Er wurde gefangen genommen und starb als Folge einer Vergiftung 767 oder 768.

Diese Schule orientiert sich an der menschlichen Vernunft und setzt sich das stete Streben nach dem Besseren als höchstes Ziel. Die Hanafi-Richtung, die weitest verbreitete im Islam, gilt allgemein als tolerant, mit liberaler religiöser Ausrichtung.

Diese Schule juristischen Denkens ist dominierend im arabischen Mittleren Osten, in Indien, Pakistan und Afghanistan,u.a., aber auch in Teilen Zentralasiens, unter Usbeken, Uiguren und Tartaren.
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Samstag, 20. November 2010

Was die katholische Kirche von Meinungsfreiheit hält

von Birgit Cerha

Die deutsche Bischofskonferenz hatte vergangenen September abrupt beschlossen, die angesehene katholische Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ mit Ende November einzustellen. Eine Rumpfversion mit religiösen und kirchlichen Themen wird ab Jänner 2011 als Beilage in „Die Zeit“ erscheinen.

Trägerinnen des RM waren bisher acht deutsche Bistümer sowie – zu einem geringen Anteil – auch die Bischofskonferenz als Dachorganisation aller 27 deutschen Diözesen.

Mit der Entscheidung zur Einstellung dieser in Bonn erscheinenden Zeitung hatten sich offenbar die konservativen Mitglieder der Bischofskonferenz durchgesetzt, denen das Blatt schon seit Jahren als zu liberal und eigenständig ein Dorn im Auge gewesen war. Offiziell heißt es allerdings, ökonomische Gründe – ein Defizit und sinkenden Leserzahlen – hätten den Ausschlag gegeben. Im „Rheinischen Merkur“ geäußerte Kritik an einer Kultur systematischen Verschweigens und Vertuschens der Kirche in Zusammenhang mit jahrelangen Missbrauchskandalen an Schulen hat u.a. konservative Bischöfe zuletzt so erboßt, dass sie eine fast 65-jährige Tradition wertkonservativer Publizistik abrupt beendeten.

Der Fall ruft das traurige Schicksal eines anderen großen publizistischen Projekts der katholischen Kirche Deutschlands in Erinnerung, dem konservative Bischöfe ebenfalls den Todesstoß versetzt hatten: die intellektuell anspruchsvolle Wochenzeitung „Publik“. Sie war 1968 von der Katholischen Kirche in Deutschland gegründet worden und sollte die Idee einer erneuerten Kirche symbolisieren, die sich im Aufbruch befindet und einen offenen Dialog mit der gesamten Gesellschaft führt. Bereits nach drei Jahren hatten sich die konservativen Kräfte in der Bischofskonferenz durchgesetzt und diese reformorientierte und liberale Stimme 1971 zum Schweigen gebracht. Empörte Leser schlossen sich darauf hin zusammen und finanzierten „Publik-Forum“, eine 14-täglich erscheinende, kirchenunabhängige Zeitung, die bis heute einen Leserkreis unter Katholiken, aber auch Protestanten halten konnte und ein eindrucksvolles Beispiel von Basisinitiative setzte.

Nach zehnjähriger Zusammenarbeit mit dem Rheinischen Merkur durfte auch ich einen Abschiedsbeitrag in der letzten Ausgabe schreiben, den sie nun lesen können


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Ein schmerzlicher Abschied

Mein letzter Beitrag für den RM kann nur ein persönlicher sein. Es ist ein Abschied, der für mich das schmerzliche Ende einer Etappe besiegelt. Ihren Niedergang habe ich in drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondentin für mehr als ein Dutzend deutschsprachiger Zeitungen miterleiden müssen. Der RM hat mir die berufliche Befriedigung geschenkt, die mir der Untergang seiner Leidensgenossen (vier angesehener Wochenzeitungen) geraubt hatte.

Der Wochenzeitungsstil, wie ihn der RM pflegte, hat sein Publikum, das ein Recht und einen Anspruch auf diese Form der fundierten, erklärenden und analysierenden Berichterstattung gerade in einer Zeit des gravierenden Niveauverlusts der Medien besitzt. Der dekrediterte Untergang dieser Zeitung reißt in der Medienlandschaft eine nicht zu schließende Lücke auf. Beispiele beweisen dies: Nach einem Jahrzehnt weinen wissbegierige Bürger im Internet immer noch der alten schweizer „Weltwoche“ (einst RM-Kooperationspartner) nach, für die sie keinen Ersatz finden.

Was mir persönlich am RM und seinem Team solche Freude machte, war neben der sachlichen Kompetenz die Ernsthaftigkeit im Umgang mit wahrhafter Berichterstattung, dem Bemühen, auch „die andere Seite“ darzustellen - leider auch im demokratischen Deutschland keine Selbstverständlichkeit mehr. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich bei meiner Berichterstattung über die arabische/islamische Welt bei als seriös geltenden (Tages-) Publikationen die Schere der Zensoren mehrmals scharf zu spüren bekam, bis sie in einem Fall gar eine 15-jährige Zusammenarbeit durchtrennte. Ich habe solches Opfer für die Meinungsfreiheit mit Stolz getragen. Umso mehr aber habe ich die Zusammenarbeit mit dem Team des RM genossen. Den Kollegen sei dafür von Herzen gedankt und den Entscheidungsträgern, die dem RM den Todesstoß versetzten, zugleich meine tiefe Empörung bekundet, dass sie – wiewohl eine starke Institution - gerade in Zeiten der Krise darauf verzichten, auf kompetente, seriöse und gefällige Weise Bildung, demokratische und ethische Werte in einer Weise zu verbreiten, die ihre Glaubwürdigkeit stärkt.

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Donnerstag, 18. November 2010

TERROR: Die Grenzen des Anti-Terror-Krieges

Mutierende Al-Kaida Zellen infizieren Deutschland und andere europäische Staaten und finden immer neue Rückzugsgebiete und Terrorstrategien

von Birgit Cerha

Nach Monaten kursierender Hinweise auf Anschläge in verschiedenen europäischen Ländern hat nun in Deutschland die Bedrohungslage einen Höhepunkt erreicht. Terrorchef Osama bin Laden, so behaupten Geheimdienstkreise, hätte höchst persönlich Pläne zu spektakulären Schlägen in Europa sanktioniert und Deutschland sei neben Frankreich ihr Hauptziel. Schon seit einiger Zeit sammeln Anti-Terror-Experten nach eigenen Aussagen Hinweise darauf, dass militante Islamisten deutscher Herkunft ihr Training in Al-Kaida Lagern im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet beendet und die Heimreise angetreten hätten, um in Deutschland „das Gelernte“ einzusetzen. Als möglicher Drahtzieher des Komplotts wird Mohammed Ilyas Kashmiri genannt, der vor einigen Monaten einen Anschlag auf das populäre Touristenrestaurant „German Bakery“ im indischen Pune organisiert hatte, bei dem 17 Menschen ums Leben gekommen waren.Im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet halten sich, ungehindert von dem von den USA mit deutscher Beteiligung geführten Anti-Terror-Krieg neben der Al-Kaida-Führung um Bin Laden seit einiger Zeit mehrere Dutzend Islamisten aus Deutschland auf. Deutsche sind auch Mitglieder der „Islamischen Bewegung Usbekistan“ und könnten sich für Bluttaten in ihrer Heimat bereithalten.

Ungeachtet des neunjährigen Krieges gegen Osama bin Laden und seine Al-Kaida hat das Terrornetzwerk eine erstaunliche Überlebenskraft und Anpassungsfähigkeit an veränderte Gegebenheiten beweisen, zuletzt durch die teilweise durch Zufall, teilweise durch Informationen eines abgesprungenen Al-Kaida-Terroristen im letzten Moment in mehreren europäischen Städten entschärften Paketbomben. Al-Kaida bewies damit, dass sie immer wieder Sicherheitslücken entdecken kann und für ihre grausigen Zwecke auszunützen versucht.

Jemen, wo die Paketbomben abgesandt worden waren, bleibt damit neben dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet das gefährlichste Rückzugsfeld der Terroristen. Die dort ansässige „Al-Kaida in der Arabischen Halbinsel“ (AKAH), die sich zu den Paketbomben bekannt hatte, begann damit einen bis dahin lokal auf die Region begrenzten Terror auf Europa auszuweiten. Der 36-jährige Deutsche Ahmed Siddiqui, der sich seit März 2009 in Al-Kaida Lagern im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet einem Terrortraining unterzogen hatte, erwies sich nach seiner Festnahme im Juli in Kabul durch US-Spezialeinheiten als eine der wichtigsten Informationsquellen. Nach seinen Auskünften rekrutierte Scheich Younis al-Mauretani, die Nummer Drei der Al-Kaida, Freiwillige aus westlichen Ländern für größere Terrorattacken in Europa, insbesondere gegen Finanz- und Wirtschaftszentren.

Neben diesen Gerüchten aber ist die anhaltende Gefahr aus dem Jemen real. AKAH, die durch eine Fusionierung saudischer und jemenitischer Al-Kaida Zellen im Vorjahr geboren wurde und sich aus saudischen, jemenitischen sowie anderen arabischen Afghanistan-Veteranen und ehemaligen Häftlingen des von den USA auf Kuba geführten Guantanamo-Gefangenenlagers zusammensetzt, stützt sich in ihren Terrorplanungen vor allem auf das Geschick des 29-jährigen Saudi Ibrahim al-Asiri, hochwirksam Plastikbomben zu bauen.

AKAH findet im bitterarmen Jemen mit seinen starken, unabhängigen und hochbewaffneten Stämmen und einer hoffnungslos überforderten, korrupten und schwachen Zentralregierung ein ideales Rückzugs- und Rekrutierungsfeld. Eine Ende Oktober eingeleitete Offensive der von US-Militärs insbesondere aus der Luft unterstützten Regierungssoldaten gegen die Extremisten kann dem Terrornetz nur wenig anhaben.

Doch keineswegs nur aus Pakistan/Afghanistan und dem südlichen Zipfel der Arabischen Halbinsel muss sich Europa bedroht fühlen. Potentiell weit größere Gefahren lauern nach Ansicht von Anti-Terror-Experten gleich jeneseits des Mittelmeeres. Die nord-afrikanische Al-Kaida Filiale hat sich in den vergangenen Jahren zu einem gut organisierten und – dank Lösegelderpressungen - finanzkräftigen Netzwerk aufgebaut, das längst seine Zellen nach Frankreich und Spanien eingeschleust hat. Bisher fehlte es ihr noch an Entschlossenheit, ihren Ärger gegen den Westen blutig in Europa zu entladen.

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Montag, 1. November 2010

IRAK: Geiseldrama in Bagdader Kirche endet in Blutbad

Höhepunkt jahrelangen Terrors gegen Christen, der ein Ende dieser alten Religionsgemeinschaft im Irak heraufbeschwört

von Birgit Cerha

„Die Operation war erfolgreich“, triumphierte Abdul-Qadr al-Obeidi, Iraks Verteidigungsminister, nachdem Montag Früh ein vierstündiges Geiseldrama in einer der größten christlichen Kirchen Bagdads zu Ende gegangen war. Alle acht Terroristen waren getötet worden, doch mit ihnen fast die Hälfte der Geiseln. Vier Stunden lang hatten Extremisten, die sich zum irakischen Zweig der Al-Kaida bekannten, mehr als hundert Gläubige in der katholischen Kirche „Our Lady of Salvation“ als Geisel genommen und über Handy einer lokalen TV-Station ihre Forderungen nach Freilassung im Irak inhaftierter und in Ägypten festgehaltener Gesinnungsgenossen gefordert. Die Verhandlungen mit den offenbaqr nicht-irakischen Terroristen scheiterten. Daraufhin stürmten irakische Sicherheitskräfte, von US-Militärs unterstützt, das Gotteshaus. Mehr als 50 Menschen verloren in dem Blutbad ihr Leben. Der „Islamischer Staat des Iraks“ bekannte sich Montag zu dem Anschlag und setzte ein Ultimatum von 48 Stunden für die Freilassung von zwei angeblich von der koptischen Kirche in Ägypten festgehaltenen christlichen Frauen, die zum Islam übergetreten waren.
Zahlreiche Augenzeugen des Blutbades zeigten sich zutiefst empört über das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die zu lange gezögert und dann das Leben von so vielen unschuldigen Menschen geopfert hätten. Scharfe Kritik an der Inkompetenz der irakischen Einheiten wurde ebenso laut, wie der Verdacht, dass terroristische Infiltranten ein effizientes Vorgehen unmöglich gemacht hätten.

Es war bei weitem der blutigste Anschlag auf die ohnedies schon zutiefst eingeschüchterte christliche Minderheit des Iraks. Seit vielen Monaten appellieren christliche Führer an den irakischen Regierungschef, an die US-Militärführung, an den Westen, für größeren Schutz der tödlich bedrohten Christen zu sorgen. Vergeblich. So war offensichtlich auch die Kirche „Our Lady of Salvation“ unzureichend geschützt. Laut irakischer Verfassung hat der Staat für die Möglichkeit der freien Religionsausübung der Minderheiten zu garantieren.

Christliche Führer klagen seit Monaten, dass ihre Gemeinschaft zu den Hauptleidtragenden des seit den Parlamentswahlen im März bestehenden Machtvakuums zählt. Tatsächlich werden Christen zunehmend Opfer in dem immer mehr gewaltsam ausgetragenen Ringen um Macht und Einfluß in einem Land, das es auch nach neun Monaten noch nicht schaffte, eine Regierung auf die Beine zu stellen.

Die Christen im Irak können ihren Ursprung bis auf das Jahr 35 n.Chr. zurückverfolgen, als der Apostel Thomas den Glauben in das Zweistromland brachte. Sie sind heute überwiegend Chaldäer, autonom vom Rom, erkennen jedoch die Autorität des Papstes an. Die zweitgrößte Religionsgemeinschaft ist jene der assyrischen Christen, der vor allem Nachkommen der alten assyrischen und babylonischen Reiche angehören. Assyrer sind auch Mitglieder der Syrisch Orthodoxen Kirche.

Hatte das säkulare Regime des Diktators Saddam Hussein die Christen, die seit Generationen in Harmonie mit der muslimischen Mehrheit gelebt hatten, weitgehend von seinem Terror verschont, so änderte sich die Situation für die Minderheit mit dem Sturz des Despoten radikal. Bei einer Synode nahöstlicher Bischöfe Mitte Oktober in Rom beschuldigte der Syrische Erzbischof Athanase Matoka von Bagdad unverblümt die USA, durch die von ihnen 2003 angeführte Invasion des Iraks dem Land und insbesondere den Christen „Zerstörung und Ruin auf allen Ebenen“ gebracht zu haben. Die christliche Gemeinde des Landes ist von mehr als einer Million 1991 auf etwa 300.000 geschrumpft und der Exodus hält an. „Wo ist das Weltgewissen“ sprach der hohe Geistliche eine Frage aus, die viele Christen des Iraks quält. „Wir fragen die Großmächte: Ist es wahr, dass es einen Plan gibt, die Christen aus dem Mittleren Osten zu vertreiben und der Irak das erste Opfer ist?“

Die allgemeine Unsicherheit, die alarmierende Zunahme islamistischen Radikalismus seit 2003 stürzte die Christen in eine äußerst verzweifelte Lage: An die 200.000 suchten bisher in der relativ sicheren autonomen Kurdenregion Zuflucht. Besonders schlimm ist die Situation in den Städten, in denen sich die christlichen Gemeinden konzentrieren, wie vor allem Bagdad und Mosul. In dieser nördlichen Stadt wurden in den vergangenen drei Jahren nicht nur Hunderte Christen ermordet, sondern 2008 sogar der Erzbischof, Faradsch Raho, entführt. Nur sechs Monate, nachdem seine Leiche gefunden worden war, ermordeten islamistische Terroristen auch seinen Nachfolger. Entführungen von Christen zur Erpressung hohen Lösegeldes, Morde, Vertreibungen aus ganzen Stadtvierteln, Attacken auf Kirchen und andere christliche Einrichtungen steigern die Ängste der Minderheit zur Panik. Wer kann, flüchtet. Ein Schritt, der nach dem Blutbad von Bagdad noch vielen mehr als die einzige Überlebenschance erscheinen mag.

Bildquelle: Reuter

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Sonntag, 31. Oktober 2010

TERROR: „Totaler Krieg gegen die Kreuzzügler“

„Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ gilt heute als die weitaus aktivste und gefährlichste Filiale des Terrornetzes

von Birgit Cerha

Und wieder führt die Spur in den Jemen. US-Behörden hegen keine Zweifel, dass „Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AKAH) für das jüdische Ziele in den USA anvisierende Cargo-Bomben-Komplott verantwortlich ist. Dank saudischer Informationen konnte Sicherheitskräfte auf den Flughäfen von Dubai und East Midlands in England in Cargo-Maschinen, die aus dem Jemen abgeflogen waren, je ein Sprengstoffpaket entdecken und entschärfen. US-Präsident Obama spricht von „glaubhafter Terror-Bedrohung“ und amerikanische Anti-Terror-Experten stufen schon seit einiger Zeit AKAH als die derzeit wohl gefährlichste und „aktivste Al-Kaida“ Filiale ein.

Tatsächlich dürfte sich dank des massiven militärischen Drucks der USA und auch Pakistans auf die Al-Kaida Führung im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan das Zentrum des internationalen Terrorismus mehr und mehr an die südliche Spitze der Arabischen Halbinsel verlagern, weit entfernt von amerikanischen Truppenkonzentrationen.Der bitterarme Jemen, in dem traditionell salafistisches Gedankengut reiche Blüte treibt, gilt schon seit langem als ideales Rekrutierungsfeld für Jihadis. Schon in den 80er Jahren fanden sich in keinem anderen arabischen Land so viele junge Männer bereit, im Guerillakampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht in Afghanistan ihr Leben zu riskieren. Die hochmilitarisierte Stammesgesellschaft, in der schon jeder Jugendliche seine Männlichkeit durch die Waffe zu beweisen hat, förderte solche Einsätze. So auch heute für andere Ziele.

Jemens Präsident Ali Abdallah Saleh versprach volle Aufklärung des Komplotts und nun wohl auch bedingungslose Kooperation im Anti-Terror-Krieg seines amerikanischen Verbündeten. Denn nun sehen sich Saleh und sein Regime durch die Extremisten auch direkt bedroht. Lange hatte der jemenitische Herrscher diesen gemeinsamen Kampf nur halbherzig geführt, primär bestrebt, materielle und strategische Profite aus der Allianz mit der Supermacht zu ziehen. Al-Kaida wollte seiner Herrschaft ohnedies nichts anhaben. Mit kriegerischen Konflikten im Norden, wie auch im Süden des Landes konfrontiert, bei gleichzeitig wachsender Unfähigkeit, die mächtigen Stämme unter Kontrolle zu halten, konnte Saleh nicht riskieren, sich noch einen weiteren potentiell sehr gefährlichen Feind zu schaffen. Doch diese Strategie erwies sich als Bumerang.

AKAH, wie sich die Gruppe heute nennt, machte mehrere Phasen durch. Terrorchef Osama bin Laden, stützte sich bereits seit den 80er Jahre in seinem Kampf in Afghanistan auf jemenitische Leibwächter. Viele jemenitische und saudische Jihadis kehrten nach der US-Invasion Afghanistans 2001 wieder heim. In Saudi-Arabien verübten sie mehrere spektakuläre Terrorakte, während sie im Jemen durch CIA-Dronen-Attacken empfindlich geschwächt erschienen. Seit dem Anschlag auf das Kriegsschiff USS Cole im südjemenitischen Hafen von Aden 2000, bei dem 17 US-Marines getötet wurden, kam es im Jemen selbst lange zu keinen größeren Attacken.

Saudi-Arabien gelang es, durch massive Sicherheitsoperationen den Terror zu stoppen. Viele Jihadis flüchteten in den benachbarten Jemen. Dort setzte 2006 die Wende ein, als 23 mutmaßlichen Al-Kaida-Kämpfern die Flucht aus einem Gefängnis in Sanaa gelang. Unter ihnen waren der ehemalige persönliche Adjutant Bin Ladens, Abdul Karim al-Wuhayshi, und Kasim al-Raymi, die gemeinsam Al-Kaida im Jemen wieder aufbauten. Unter Wuhayshis Führung schlossen sie sich 2009 mit den saudischen Jihadis zur AKAH zusammen. Zweiter Mann ist Said al-Shihri, Ex-Häftling aus Guantanamo Bay, der in seiner saudischen Heimat ein „Ent-Radikalisierungsprogramm“ durchgemacht hatte. Shihris Werdegang dokumentiert unbehaglich den mangelnden Erfolg der Reintegration von Jihadis in die Gesellschaft ihrer Heimatländer. Es ist keineswegs das einzige Beispiel.

AKAH setzt sich heute aus Jemeniten (etwa 56 Prozent), Saudis 37 Prozent) und Ausländern (sieben Prozent) zusammen. Das offizielle Jemen beziffert ihre aktiven Mitglieder mit einigen hundert. In Wahrheit dürften es jedoch entscheidend mehr sein. Nach Einschätzung des jemenitischen Journalisten Nabil al-Sufi zieht sich AKAHs Einfluß über ein großes Dreieck, das fast die Hälfte der Landesfläche einnimmt. Es zieht sich von Abyan im Westen, über Jawf im Süden über Hadramaut und weiter bis nach Sanaa und Saada im Norden. Es gelang den Jihadis Allianzen mit einflussreichen oppositionellen Stämmen zu schließen und auch unter der Masse der wegen ihrer Perspektivlosigkeit frustrierten Jugendlichen Anhänger zu finden.

Seit dem fehlgeschlagenen Anschlag auf eine US-Passagiermaschine in Detroit Ende 20009 begannen die jemenitischen Streitkräfte mit US-Unterstützung mutmaßliche Al-Kaida Stützpunkte massiv zu attackieren. Zahlreiche Jihadis, darunter auch lokale Führer kamen ums Leben. Als Reaktion setzte sich AKAH den Sturz des jemenitischen, wie des saudischen Regimes als höchste Priorität in ihrem langfristigen Kampf um die Errichtung eines islamischen Kalifats, das die gesamte Region dominieren soll. Doch, ebenso wie in Afghanistan, treffen die Anti-Terror-Kampagnen vor allem Zivilisten, die zwischen die Fronten geraten, während sich die Terroristen meist rechtzeitig im unwegsamen Gebirge verschanzen. Mit steigender Zahl ziviler Opfer wächst unter den Jemeniten der Haß auf die USA und den Westen, ebenso wie gegen das ungeliebte Regime, zugleich steigt die Sympathie für die Jihadi-Bewegung.

Mindestens 90 Angehörige der Sicherheitskräfte und Zivilisten kamen seit Januar bei Anschlägen der AKAH ums Leben. Doch das Regime spricht von Erfolgen in seinem Kampf. Jihadis seien aus ihren Hochburgen verjagt worden, versteckten sich in Höhlen des Süd-Jemens. Doch Teile der Provinz Abyan sind heute Kriegszonen, vollends vom Rest des Landes abgeschnitten. Bewohner von Mudiya, einer der Städte, in denen sich jemenitische Sicherheitskräfte fast täglich Schlachten mit den Jihadis liefern, berichteten dem TV-Sender Al Jezira, dass US-Dronen fast täglich viele Stunden über ihre Köpfe flögen und die jemenitische Luftwaffe mutmaßliche Verstecke der AKAH bombardiere.

Im eskalierenden Kampf schlägt AKAH auch immer stärker die Propagandatrommel und schürt den Hass auf den Westen. „Die Ungerechtigkeit und Unterdrückung des Volkes, das keinerlei Waffen besitzt, um sich selbst zu verteidigen, hat alle akzeptablen Grenzen überschritten“, erklärte Al-Wuhayshi in einem Brief „an unser Volk im Süden“, wo die Regierungskräfte mit besonderer Härte vorgehen. „Es ist unsere Pflicht, diese Menschen zu unterstützen und ihnen zu helfen.“ Und wiederholt drohte AKAH auch dem amerikanischen Volk: „Da es die Führer unterstützt, die unsere Frauen und Kinder töten….werden wir euch massakrieren, werden ohne Vorwarnung gegen euch losschlagen, unsere Rache ist nahe“. Und „alle Muslime“ sollten „alle Ungläubigen von der Arabischen Halbinsel entfernen, indem sie die Kreuzzügler in einem totalen Krieg töten“. Anfang Oktober entging ein britischer Diplomat in Sanaa nur knapp einem Terroranschlag. Westliche Botschaften in der Hauptstadt sind immer wieder Ziele von Attacken. Mehr und mehr Mitarbeiter westlicher Firmen und der so dringend in diesem bitterarmen Land benötigten Hilfsorganisationen kehren dem Jemen den Rücken. Zuletzt suspendierte die Lufthansa ihre Flüge nach Sanaa und Paris schloß eine französische Schule.

Der Teufelskreis dreht sich schneller. Armut und Hoffnungslosigkeit treibt mehr und mehr Menschen in die Arme der Radikalen, denen es offensichtlich nicht an Geld mangelt. Wohl aber – vorerst? – an organisatorischen Fähigkeiten für hochspektakuläre Operationen wie jene der Mutterorganisation vom 11. September in den USA. „Inspire“, ein in englisch verfasstes online-„Jihad“-Magazin, in dem AKAH vor allem westliche Ausländer anzuwerben sucht, lässt die aktuelle Strategie erkennen: primitive Terrorattacken, die erfinderische Planung voraussetzen. Die „Waffen-Option“ hat Priorität, Mord mit Gewehr oder Pistole, weil dies relativ einfach durchzuführen sei, wenig Training und Material voraussetze, Einzelaktionen ermögliche und damit die Gefahr, im Planungsstadium entdeckt zu werden entscheidend verringere.

Die Cargo-Bomben geben Experten vorerst Rätsel auf. Fallen sie in das Schema der neuen Strategie simpler Aktionen? Ihre Erfolgschancen, so meinen Terrorexperten, erscheinen so gering, dass Zweifel an den wahren Absichten der Täter aufkommen. Wollte AKAH primär Aufmerksamkeit unter Gleichgesinnten bzw. in der zunehmend verzweifelten und über den Westen vergrämten jemenitischen Gesellschaft auf sich ziehen, um mehr und mehr Aktionisten auf ihre Seite zu ziehen? Ein Dilemma für die Anti-Terror-Strategen. Mit Waffengewalt, mit Dronen und Bomben wird sich der Al-Kaida-Sprößling noch weniger aus dem Jemen verjagen lassen, als seine Mutterorganisation aus dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet.

Experten; wie Christopher Boucek von „Carnegie Endowment for International Peace“ hält AKAH „für gefährlicher als die Mutterorganisation. Sie (die Jihadis) kündigen ihre Taten an, führen sie durch und scheitern sie dabei, versuchen sie es wieder.“ Es werde in Zukunft noch viel mehr Attacken geben.


Bildquelle: AFP

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Mittwoch, 27. Oktober 2010

PAKISTAN: Die Häufung von Krisen in Pakistan

von Dr. Arnold Hottinger

Hochflut der staatszersetzenden Kräfte

Die grossen Überschwemmungen in Pakistan sind abgeklungen. Niemand mehr läuft Gefahr zu ertrinken. Doch gegen 20 Millionen der beinahe 150 Millionen Pakistani sind ihres Lebensunterhaltes beraubt, und es sind die Produktivsten der Pakistaner, die Bauern, welche die anderen bisher ernährten. Ihre Gehöfte sind zerstört, ihre Brunnen und Felder mit Schlamm überzogen, ihre Strassen fortgetragen, Elektrizität nicht mehr vorhanden, das Vieh weitgehend ertrunken, ihr Saatgut vernichtet, ihre Gesundheit gefährdet, weil sauberes Trinkwasser fehlt. Für das tägliche Leben sind sie auf Nahrungsverteilungen angewiesen, die nicht immer überall ankommen. Als Behausung verfügen sie besten Falls über Zelte und Hütten, die in riesigen Lagern errichtet wurden, im schlechtesten hausen sie immernoch an den Strassenrändern. Doch die pakistanischen Zeitungen sprechen nicht mehr von ihnen. Vielleicht weil es sich bloss um Bauern handelt, die selbst keine Zeitungen lesen und deren Leben, am Rande des Existenzminimums, den zeitungslesenden Bürgern als eine unabänderliche Gegebenheit gilt. Bauern hat es immer gegeben und sie haben immer ein elendes Leben geführt. Dass dieses Leben nun auf einen Schlag all seiner Voraussetzungen beraubt worden ist, scheint den oberen Schichten nicht wirklich bewusst geworden zu sein. Und wem es voll bewusst wurde, der weiss, das Unglück ist zu gross, als dass er es abwenden könnte.
Die Armee ist eingesprungen, um Leben zu retten, solange die Menschen in akuter Lebensgefahr schwebten. Die Regierung müsste sich nun darum kümmern, dass die pakistanischen Bauern ihre Felder wieder bestellen und ihre Häuser wieder aufrichten könnten. Doch die Regierung hat anderes zu tun. Die riesige Masse der Geschädigten bleibt weitgehend auf sich selbst angewiesen. Sie werden Schulden machen beim Grossgrundbesitzer, sagen viele der Bauern resigniert, und sie werden dann für den Rest ihres Lebens die Schulden abtragen müssen, wenn sie das überhaupt je vermögen. Andere der Obdachlosen werden in die Grossstädte abtreiben und dort die heute schon riesige Zahl der Slumbewohner noch weiter vermehren. Diese Elendsstädte sind bereits gegenwärtig Brutstätten der Gewalt und der Unsicherheit.


Wo bleibt die Regierung?

Dabei ist den Geschädigten klar, dass eigentlich die Regierung eingreifen sollte. Doch sie stellen fest: sie ist nirgends zu sehen, sie kümmert sich nicht um sie. Die Armee trat kurzfristig in die Lücke, indem sie ihre Mittel einsetzte, um Leben zu retten und Zeltlager aufzubauen. Doch dies galt nur für die erste Zeit der akuten Bedrohung durch die Wassermassen. Nun sehen sich die Millionen von Überschwemmungsopfern auf sich selbst angewiesen. Ihre Bitterkeit ist gross. Doch ihre Möglichkeiten, sich zu beklagen sind beschränkt. Niemand spricht für sie, und sie selbst haben kaum Mittel, um sich vernehmbar zu machen. Wenn später wiedereinmal gewählt werden wird, könnten sie theoretisch den heute regierenden Kreisen ihre Stimmen entziehen. Doch wer bis dann überlebt, wird es in der Praxis dann doch nicht tun. Er wird mehr als je auf seinen Grossgrundbesitzer angewiesen sein und ihm seine Stimme geben. Oder auch auf die Gangster Politiker, die in den Elendsstätten das Sagen haben. - Es sei denn der Ruf der Islamisten wird zu ihm gedrungen sein, und sie haben ihn überzeugt, dass das bestehende System verdiene, ausgerottet und umgestürzt zu werden zu Gunsten eines, wie sie verheissen, idealen islamischen Staates, den sie zu organisieren versprechen.

Die Dauerkrise im Norden des Landes

Der Staat ist inzwischen zu seinen Routinekrisen zurückgekehrt. Von ihnen gibt es viele. In der Wahrnehmung der Militärs und vieler patriotischer pakistanischer Bürger ist Indien immernoch die grösste Gefahr. Gegen sie muss man vor allem gerüstet sein. "Die indische Armee", so rechnen die pakistanischen Strategen," muss dadurch beschäftigt werden, dass islamistische Kräfte aus Pakistan sie nie ganz zur Ruhe kommen lassen, nicht in Kaschmir und nicht im übrigen Indien. Wenn das nicht wäre, müssten wir mit neuen Angriffen des uns zahlen- und flächenmässig so sehr überlegenen indischen Feindes rechnen."
Dazu kommt die Krise im Norden, sowohl in den Stammesgebieten wie in Afghanistan und in Beluchistan. Dort wachsen die islamistische und die separatistische Kontestation. Die pakistanische Armee ist sich gewiss, sie vermag sie in Schach zu halten. Doch sie weiss auch, zu ersticken vermag sie diese Bewegungen nicht. Sie muss bemüht sein, ihre Träger, die Stammesleute und die Islamisten, für ihre eigenen Zwecke einzuspannen, zu spalten und zu instrumentalisieren. Um alle Ecken und Enden der weiten und wilden Gebiete des Nordens und des Nordwestens zu kontrollieren, fehlen die Mannschaften. Geld ist vorläufig da, solange die Amerikaner bezahlen.

Bisher war es Pakistan immer gelungen, sich unter den Stammesleuten und den islamistischen Kämpfern Verbündete zu schaffen und diese nach aussen zu wenden, richtung Afghanistan, richtung Kaschmir. Sie alle niederzukämpfen, gilt den Strategen der pakistanischen Armee als eine unbrauchbare Alternative. Die Amerikaner aber glauben daran. Auf die Amerikaner ist man für das Geld angewiesen, das dazu dient, die grosse und teure pakistanische Armee zu unterhalten. Man ist aber auch darauf angewiesen, nicht wirklich und völlig zu tun, was die Amerikaner sehen möchten, nämlich die Armee voll und ganz zur Niederhaltung der Stämme und der islamistischen Kämpfer einzusetzen. Denn man würde dabei eine Niederlage riskieren. Die Pakistani vermuten: am Ende werden die Amerikaner abziehen und sich selbst desinteressieren, wie sie es schon einmal 2002 nach Niederlage der Taleban taten. Doch Pakistan wird seine Nachbarn behalten, Indien und Afghanistan, sowie die schwer zu bändigenden Stammesgebiete.

Die letzten fünf Jahre haben wahrscheinlich vielen pakistanischen Offizieren deutlich gemacht, dass die alten Methoden der Unterordnung und Manipulation der Stämme und ihrer Kämpfer im Falle der Islamisten nicht unbedingt funktionieren. Zuerst sind die von Pakistan geschaffenen und geförderten Taleban in Afghanistan unabhängiger geworden, als die pakistanischen Drahtzieher sich das vorgestellt hatten; dann haben die pakistanischen Taleban sich in den pakistanischen Stammesgebieten hervorgetan und begannen Fühler nach den Städten des Landesinneren auszustrecken: Peschawar, Lahore, Islamabad. Als sie in der Hauptstadt nach längeren Verhandlungsperioden im Juli 2007 mit der Belagerung und Einnahme der Roten Moschee durch die Armee blutig zurückgewiesen wurden, rächten sie sich durch verheerende Selbstmordanschläge in allen pakistanischen Städten, versuchten in Swat einzudringen und nestelten sich in den Grenzgebieten nach Afghanistan dauerhaft ein.

Bekämpfung oder Benützung der Islamisten?

Die Amerikaner drängten darauf, dass die Armee all diese Grenzgebiete sicher stelle und permanent unter ihre Kontrolle bringe. Die pakistanische Armee ging darauf ein, jedoch nur in beschränktem Masse. Da sie nicht gut sagen konnten, das Vorhaben gehe über ihre Mittel, erklärten die Armeesprecher, die Armee werde einschreiten nach ihrem Ermessen und zu der von ihr gewählten, richtigen Zeit. Es gab einige energische Vorstösse in die Grenzregionen, nach Swat im April 2009, wo die ganze Zivilbevölkerung zeitweise evakuiert werden musste, und in Stammeszonen wie Nord- und Süd-Waziristan und Bejaur. Doch dann meldete die Armee, für den Augenblick gedenke sie ihre Offensiven nicht fortzusetzen. Die pakistanischen Taleban führten jedoch ihre vernichtenden Bombenanschläge immer fort bis in die jüngste Zeit.
Die Amerikaner versuchten ihrerseits Druck auszuüben, indem sie ihre Drohnenangriffe auf Positionen in den Stammesgebieten intensivierten, Dies führte unvermeidlich zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung, weil die islamistischen und die Stammeskämpfer mit der Zivilbevölkerung in den gleichen durch Lehmmauern befestigten Dörfern und Höfen leben. Pakistan protestierte auch gegen die Übergriffe von amerikanischen Helikoptern auf sein Hoheitsgebiet. Schliesslich, nach dem Tod einer Anzahl von pakistanischen Grenzwächtern durch einen amerikanischen Helikopterangriff Anfang September 2010, wurden die pakistanischen Offiziere energisch und drosselten für zwei Wochen den militärischen Nachschub der Amerikaner, der über die Khyberstrasse nach Kabul geleitet wird. Gleichzeitig wurden auch zahlreiche amerikanische Erdöltanker mit ihrer Ladung am Nordrand der Provinz Sind in Brand gesteckt. Daraufhin kam es zu Verhandlungen auf hohem Niveau und zu einer Art von Versöhnung, wie nicht anders zu erwarten war, weil die Amerikaner die Pakistani als Partner im Krieg gegen den Terrorismus und als Nachschubweg nach Afghanistan brauchen, die Pakistani aber auch die Amerikaner als Geldgeber und Waffenquelle für ihre Armee.
Der Umstand, dass die pakistanischen Geheimdienste den Oberhäuptern der afghanischen Taleban in Quetta und anderen Städten Asyl gewähren, trägt zu den Reibungen zwischen den beiden Verbündeten bei. Die Pakistani streiten empört ab, dass sie die Taleban weiter beschützen, doch sie tun nichts, um sie gefangen zu nehmen. Eine Ausnahme gab es, als sie im vergangenen Februar Mullah Beradar, den obersten Einsatzkommandanten der afghanischen Taleban, gefangen setzten. Doch dies geschah offenbar, weil Beradar begonnen hatte, mit den Amerikanern Kontakte aufzunehmen, ohne die Pakistani einzuschalten. Inzwischen verlautete, Beradar werde nach Kabul ausgeliefert, wenn einmal fest stehe, dass er keiner Vergehen in Pakistan schuldig sei.

Die zweite Dauerkrise im Süden

In der stets unruhigen Grossstadt Karachi ist eine neue Unruhewelle ausgebrochen, die bisher zu zahlreichen Mordanschlägen und Gegenschlägen zwischen den seit langer Zeit in der Stadt lebenden Urdu sprechenden ursprünglichen Einwanderern aus Indien und der neueren Einwanderungsbevölkerung von Belutschen und Paschtunen aus den nördlichen Teilen Pakistans und aus Afghanistan geführt hat. In Karachi wird der Ruf nach einer Präsenz der Armee laut, denn der Regierung traut niemand zu, dass sie Ruhe zu halten vermöchte. Doch die Armee sucht zu vermeiden, dass sie sich überall gleichzeitig engagieren muss.

Die Regierung scheint ihrerseits hauptsächlich damit beschäftigt, das weitgehend zerrüttete Regierungssystem durch Reformen wieder zum Funktionieren zu bringen. Präsident Zardari hat seine Regierungskompetenzen auf Wunsch des Parlamentes fast völlig in die Hände des Ministerpräsidenten Yussuf Raza Gilani zurückgelegt, der als ein loyaler Anhänger der Partei der Bhutto Familie (PPP) gilt. Während der diktatorischen Regime unter Pakistans militärischen Präsidenten, hatten diese alle Regierungsmacht in ihren Händen konzentriert. Auf Zardari lastet auch ein Beschluss des Obersten Gerichtshofes, nach dem eine Amnestie der ihm vorgeworfenen Vergehen von Korruption und Bestechlichkeit inkonstitutionell sei und deshalb wieder aufgehoben werden müsse.

In den Fesseln der eigenen Vergangenheit

Gesamthaft gesehen macht Pakistan heute den Eindruck eines Landes, das in seiner Vergangenheit stecken geblieben ist und den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen scheint. Zwei Anker halten das Land in der Vergangenheit fest: die Grossgrundbesitzer, die nach wie vor das politische System beherrschen, indem sie mit ihren Gefolgsleuten das Parlament besetzt halten und die Armee. Diese wurde aufgebaut und privilegiert mit dem Ziel, Indien die Stirne zu bieten, und sie hält zäh an dieser Bestimmung fest. Die Kampfmethode, die sie dabei seit der Entstehung Pakistans zur Zeit der blutigen Trennung von Indien entwickelte, hat sie auch beibehalten: neben dem Einsatz und der Bereitstellung konventioneller Truppen betreibt sie die Mobilisierung von islamisch motivierten Freiwilligen, wie sie zuerst für die "Befreiung Kaschmirs" zum Einsatz gelangten und seither immer von der Armee gefördert, bewaffnet und eingesetzt werden, noch immer in Kaschmir aber auch in Afghanistan und immerwieder für Terroranschläge in Indien selbst. Im Verlauf der Generationen ist diese Kampfmethode zum festen und als unentbehrlich geltenden Bestand der pakistanischen Strategie geworden, auf den man nicht mehr verzichten zu können glaubt. ISI (Inter Service Information) der Geheimdienst der Streitkräfte, wurde zum Hauptinstrument, das den "informellen" Arm der Armee einsetzt, unterstützt und manipuliert. Indien entwickelte eine Gegenstrategie, die sich auf den indischen militärischen Geheimdienst abstützt.

Die Ausdehnung der islamistischen Ideologie

Die letzten beiden Jahrzehnte brachten jedoch Neuentwicklungen, mit denen die ursprünglichen Einsätze von "Mujahedîn" noch nicht rechnen mussten. Diese sind durch das Umsichgreifen der Ideologie des Islamismus gegeben. Heute bewegt und mobilisiert diese Ideologie immer wachsende Kreise der unteren Mittelschichten. Sie wurde zur revolutionären Ideologie, in dem Sinne dass sie heute den Umsturz der bestehenden Regime betreibt, auch wenn diese sich islamische Regime nennen. Sie gefährdet damit den Status quo in Pakistan selbst, so gut wie in Ägypten, in Saudi Arabien, und in allen islamischen Staaten, in denen sie die Niederwerfung der bestehenden Regierungen betreibt. Diese gelten den heutigen Islamisten als "heidnisch" und sollen durch "islamische" Machtgebilde ersetzt werden, welche die Ideologen der Islamisten selbst aufzubauen und zu betreiben gedenken.

Dies ist eine Neuentwicklung die noch nicht eingetreten war, als die pakistanischen Strategen in den Jahren nach der Gründung Pakistans damit begannen, ihre Macht mit der Hilfe von "islamischen Freiwilligen" , "Mujahidîn" in der Fachsprache, richtung Kaschmir und Indien auszudehnen. Die Leute von ISI scheinen heute gefangen in der Lage des Zauberlehrlings, der seinen Besen zum Wasserträger verhexte, ihm aber nun nicht mehr zu gebieten vermag, seine Aktivität zu beenden. Wie das leicht geschieht, tadeln sie dafür nicht so sehr sich selbst als die Amerikaner. Wenn diese nicht wären mit ihren politischen Absichten und strategischen Plänen, so suchen sie sich selbst zu verteidigen, würden sie, die wohlausgebildete Elite der pakistanischen Offiziere - wie während so vielen Jahren zuvor - mit den "primitiven" Islamisten schon fertig werden. Sie haben nicht völlig unrecht. In der Tat dürfte es die heutige Weltlage sein, mit ihrer Globalisierung, die primär als eine amerikanische Weltordnung auftritt, welche die Umsturzideologie der Islamisten zu einer weit um sich greifenden Denk- und Empfindungsweise hat heranreifen lassen, die heute bei vielen der muslimischen Unter- und Mittelschichten ein Echo findet, weil ihnen ihre heutige Lage als ein Unrecht erscheint, das nur durch eine - wie sie glauben "islamische" - Umwälzung der bestehenden Weltordnung wieder eingerenkt werden könne.

"Amerika" gilt als verantwortlich

Die Schuldzuweisungen an "die Amerikaner" führen dazu, dass die pakistanischen Offizierseliten sich selbst den Weg zur Erkenntnis der heutigen Lage verbauen. Sie neigen dazu, anzunehmen, wenn nur die Amerikaner sie machen liessen, ohne sich einzumischen (aber natürlich doch indem sie weiter bezahlten), dann könnten sie selbst, wie in den früheren Jahren, ihr Spiel mit den Islamisten erfolgreich fortführen. Die Tatsache, dass die Islamisten sich heute in einer ganz anderen Lage befinden, weil ihnen der Wind des Widerstandes gegen den status quo die Segel bläht, wird verkannt. Was eine Änderung der heute veralterten Grundstrategie des pakistanischen Militäretablissements, die dringend notwendig wäre, bisher verhindert hat.

Bildquelle: http://www.buchmesse.taz.de/

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